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REPORTAGE

Blutrache am Balkan: Eine Ehrenschuld, die nicht verjährt! (1. Teil)

FOTO: Nenad Mandic

BLUTRACHE. Der Mord an einem männlichen Familienmitglied bedeutete in gewissen Regionen des Balkans jahrhundertlang nicht nur Trauer und Unglück, sondern auch die Verpflichtung, es dem Mörder und seiner Familie mit gleicher Münze zu vergelten. Das grausame Gesetz der Ehre hielt eine grausame Spirale am Leben.

Im ersten Teil unserer zweiteiligen Reportage berichten wir von einer wahren Geschichte, die sich am Balkan zutrug…

Früher einmal herrschte die Blutrache als Brauch bei allen europäischen Völkern, vor allem auf Sizilien, Korsika und in Teilen Schottlands. In den letzten sechs Jahrzehnten ist sie jedoch vor allem auf dem Balkan bei den Albanern im Kosovo, bei den Albanern in Montenegro, Malesia, und bei einem Teil der Montenegriner noch lebendig. Das Gesetz des albanischen Fürsten Leka Dukadjini wirkte stärker als jedes offizielle Rechtssystem: „Aug um Auge, Zahn um Zahn, Blut um Blut“. Diese Regel trat beim Mord an einem Mann in Kraft und ein enger Verwandter vollstreckte sie an dem Mörder oder an einem männlichen Mitglied seiner Familie. Ermordete Frauen rächte niemand.

Sie galten nicht genug, als das für sie die Blutrache ausgeübt worden wäre. Obwohl die Blutrache unter juristischen Gesichtspunkten ein schweres Verbrechen ist, galt sie in der Vergangenheit als moralische Pflicht. Die Familie rechtfertigte das Vorgehen des Rächers mit der Wahrung und Verteidigung ihres Rufs und ihrer Ehre und die Umgebung verurteilte es zumeist auch nicht. Nicht vollzogene Blutrache galt als Feigheit und die Familien verstießen solche Mitglieder oft, denn es war eine große Schande.

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GEWALT. Kinderehen gelten dem Gesetz nach als eine Form von Gewalt, denn die Opfer können sich aufgrund ihres Alters nicht wehren. Der Hintergrund ist Armut in den Randschichten der Gesellschaft, die zu einem Mangel an Bildung und blinder Befolgung von Traditionen führt.

 

Der damalige albanische Diktator Enver Hodža unterband die Blutrache mit drastischen Strafen, aber nach dem Zerfall seines Systems erhielten auch alte Fälle neue Gültigkeit, in denen eine Bluttat über Jahrzehnte ungesühnt geblieben war. Davon zeugt die Tatsache, dass von 1997 bis heute mehr als 1.800 Morde verübt wurden, die auf dem alten Gesetzbuch beruhten, und ca. 200.000 Menschen in diesem Land fürchten sich vor der Blutrache. Allein in Nordalbanien leben 150 große Familien mit ca. 2.000 Kindern in Isolation. Die männlichen Mitglieder verlassen die von hohen Mauern umfassten Anwesen nicht. Die Buben wissen nicht, wie die Außenwelt aussieht, wie man mit Freunden spielt oder in die Schule geht. Sie sind in einem fremden Verbrechen und dessen Abrechnung gefangen. Dagegen ist nichts zu machen, auch das Rechtssystem ist machtlos.

Stärker als die offiziellen Rechtssysteme war der Kanon des Leka Dukadjini:
„Auge um Auge, Zahn um Zahn, Blut um Blut.“

In gegenseitigen Abrechnungen unter Albanern geschahen auch während der Kriegshandlungen der neunziger Jahre auf dem Kosovo zahlreiche Morde. Damit die drohende Lawine an Sühnemorden nicht weiterrollt, arbeiten die angesehensten Mitglieder der dortigen Gemeinschaft durch Vermittlungsräte an einem sogenannten „Blutfrieden“ bzw. an der Versöhnung der durch Blutschuld verfeindeten Familien. So, wie die Dinge derzeit stehen, gibt es Grund für Optimismus, obwohl es noch immer vorkommt, dass Schulden blutig heimgezahlt werden. Die Albaner aus Montenegro haben begonnen, ihre Abrechnungen nach Amerika mitzunehmen, wo eine große Zahl von ihnen lebt. Daher haben sie vor einigen Jahrzehnten in der Malisora-Versammlung eine kollektive Besa für einen „Blutfrieden“ abgelegt, die bis heute gewahrt wird. Die Besa ist bei den Balkanern ein Ehrenwort und wird nicht gebrochen.

Kinderopfer
Nach den alten Schriften gab es in Albanien einen Weg, die Blutrache zu durchbrechen, der besonders schwer war. Die Familie, deren Mitglied den letzten Mord begangen hatte, wandte sich an eines der angesehensten Mitglieder des Blutgerichts und erklärte ihm, dass sie Frieden wollte. Die Mitglieder, die für das Blutvergießen bisher die größte Verantwortung getragen hatten, gingen in das Haus der Familie, in deren Blutschuld sie standen. Mit sich trugen sie eine Wiege mit einem neugeborenen männlichen Kind, das sich noch nicht auf die Hände stützen oder den Kopf heben und drehen konnte. Vor dem Haus riefen sie den Hausherren heraus, setzten die Wiege auf den Boden und nahmen das Baby heraus, damit er sehen konnte, dass es gesund und munter war. Dann legten sie das Kind in die Wiege zurück, drückten es aber mit dem Kopf tief in die Kissen, sodass es nicht atmen konnte. Wenn der Hausherr das Baby herausnahm und es vor dem sicheren Tod rettete, war das ein Zeichen, dass er zum Abbruch der Blutrache bereit war. Andernfalls wandte er sich von der Wiege ab und kehrte ins Haus zurück. Das war das Zeichen, dass die Blutrache fortgesetzt werden sollte.

KINDSOPFER. Der Hausherr stand neben der Wiege, während das Kind nicht atmen konnte,
wendete sich ab und ging ins Haus. Das war das Zeichen,
dass die Rachemorde weitergingen.

Die Tragödie des Nikola Kaluđerović
In einem Cetinjer Cafe starb am 24. August 1987 Željko Kaluđerović (23) beim Versuch, zwei Burschen zu trennen, die sich heftig prügelten. Erschossen wurde er von Rade Grdinić, Mittäter war sein Bruder Rajko und drei weitere Freunde wurden als Mitschuldige an dem Mord verurteilt. Željko Kaluđerović gehörte keinem kriminellen Untergrundmilieu an und jeder, der in Montenegro von diesem Fall hörte, trauerte um ihn. Er war ein Einzelkind, was die Tragödie noch schrecklicher machte. Über die Ereignisse, die folgten und die sich tief in das kollektive Gedächtnis der Montenegriner eingegraben haben, darüber, wie er seinen Sohn rächte, sprach KOSMO in Cetinje mit Nikola Kaluđerović (78) und seiner Frau Anđa (78).

„Mein Sohn war immer ein gutes Kind, ein hervorragender Schüler und bei den Leuten sehr beliebt. Er hatte die Fakultät und den Wehrdienst abgeschlossen, und bis zu diesem unglücklichen Abend waren wir eine glückliche Familie. Er geriet zufällig in eine Gesellschaft hinein, zu der er nicht gehörte, versuchte, zwei Burschen zu trennen, die wegen jeder Kleinigkeit ihre Pistolen zückten. Als man uns mitteilte, dass unser Sohn am Kopf verletzt war, dachte ich, dass damit auch mein Leben zu Ende ist. Mit uns warteten vor dem Krankenhaus in Podgorica viele Menschen aus Cetinje und hofften, dass mein Kind überleben würde. Drei Tage kämpften die Ärzte um sein Leben und am Ende ließen sie uns zu ihm, um ihn zu küssen und uns von unserem Leben zu verabschieden“, erzählt der Alte, während ihm Tränen über das Gesicht laufen.

Željko Kaluđerović: Er war ein Einzelkind und gehörte nicht zum Milieu der schweren Jungs. Um ihn trauerte jeder, der in Montenegro von dem tragischen Fall hörte. (FOTO: Nenad Mandic)

Verurteilung des Milieus
Der Mörder und die Mittäter wurden verhaftet und gemeinsam zu fast 50 Jahren Gefängnis verurteilt. Grdinić, der abgedrückt hatte, wurde zu 20 Jahren Haft verurteilt, saß aber nur 12 Jahre ab. Sein jüngerer Bruder erhielt eine Strafe von vier Jahren und acht Monaten, wurde aber nach fünf Monaten entlassen. Es schien, dass die Beziehungen der Familie Grdinić in Montenegro stärker waren als Recht und Gerechtigkeit. „Um ehrlich zu sein, habe ich mich nicht sofort entschlossen, ihn zu rächen. Wenn es ehrliche Burschen gewesen wären, die zufällig in Streit geraten wären, und dann wäre das alles passiert, hätte ich es als jugendliches Ungestüm entschuldigt und dabei wäre es wahrscheinlich geblieben. Aber sie waren in Cetinje als Kriminelle bekannt, bei der Polizei und im Gericht lagen ganze Stapel ihrer Fälle, aber sie wurden nicht verhaftet. Hätten ihre Eltern sie vernünftig erzogen oder hätte der Staat seine Pflicht erfüllt, läge mein Kind jetzt nicht unter der Erde“, erklärt der unglückliche Vater unter Schmerzen. Cetinje ist ein kleiner Ort, bergig und teilweise karg, leichter bereit zu verurteilen als zu verzeihen, und Nikola Kaluđerović begann, es ihm zu verübeln, dass er seinen Sohn nicht rächte.

BRAUCH. Die Gebirgsgesellschaft verurteilt es, wenn keine Rache geübt wird.

Die Menschen, einschließlich seiner Verwandten, fingen an, ihn schief anzusehen und zu meiden, vor allem, nachdem Rajko Grdinić, genannt der Kalte, aus dem Gefängnis gekommen war. „Er hat mir mit seinem Verhalten geholfen, umzudenken und mich zur Rache für mein Kind zu entschließen. Fast täglich provozierte er meine Frau und mich, raste mit dem Auto an unserem erloschenen Zuhause vorbei, hupte dabei manchmal und riss unsere Wunden wieder auf. Er machte mich vor Menschen lächerlich, von denen er wusste, dass sie mir erzählen würden, wie er sich aufführte und wie er mir ins Gesicht schlug und wie er sich mit seinen blutigen Händen brüstete. Einmal schoss er in Rijeka Crnojevića Gewehrsalven in die Luft, und als ihm Leute sagten, dass sich das nicht gehörte, denn er sollte daran denken, wen er und sein Bruder umgebracht hätten, lachte er, machte hässliche Bemerkungen über mich und schoss weiter in die Luft. Seine Provokationen brachten mich in eine moralisch und körperlich schwierige Situation und ich begann mich zu schämen, wenn ich das Grab meines Sohnes besuchte. Ich ging nachts zum Grab und besuchte keine Trauerfeiern mehr, wenn jemand anders gestorben war. Ich hatte nur zwei Möglichkeiten: mir und meiner Frau das Leben zu nehmen oder Rajko Grdinić. Ab dem Moment, in dem ich mich zur Rache entschlossen hatte, hätte ihn niemand mehr retten können“, fährt Nikola fort.

Anđa und Nikola Kaluđerović: Er war ein gutes Kind, ein hervorragender Schüler, höflich und beliebt. Bis zu diesem unglücklichen Abend waren wir eine glückliche Familie. (FOTO: Nenad Mandic)

Es war kein Problem für Kaluđerović, sich eine Waffe zu beschaffen, denn er bekam sie von Freunden, die die Blutrache für eine Ehrenpflicht hielten. Sie begannen ihn zu benachrichtigen, wo sich Grdinić bewegte, und über ein Jahr lang verfolgte er ihn bis nach Rijeka, Split, Belgrad und an die montenegrinische Küste.

„Anđa wusste, was ich vorhatte, aber sie wusste nicht, dass ich schon unterwegs war. In dieser Zeit habe ich nur wenige Nächte zu Hause verbracht und war niemals unbewaffnet. Ich hatte die feste Absicht, ihn zu töten, achtete aber darauf, das nicht zu tun, wenn er unter Menschen war, damit niemand zufällig getroffen würde. Darauf habe ich sehr geachtet, aber das Unglück war, dass ich trotzdem einen ganz unbeteiligten Menschen verletzt habe, der später gestorben ist“, die Bürde des unbeabsichtigten Verbrechens ist im Seufzer des Alten hörbar.

Im zweiten Teil unserer Reportage, die morgen erscheint, lest ihr was in der Nacht der Rache genau passierte…