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REPORTAGE

Die Beschneidung – eine Glaubensregel

Nesiha Islamović: „In Modriča haben wir alle unsere religiösen Feiertage, unsere Taufen und Beschneidungen offen gefeiert.“ (FOTO: Diva Shukoor)

Nesiha Islamović (65) – Pensionistin
Nesiha stammt aus Modriča und erinnert sich gerne an die Zeit, von der heute viele meinen, dass sie in religiöser Hinsicht viele Beschränkungen gebracht hat. „In Modriča waren alle drei Völker in dieser Zeit gleichermaßen vertreten, es herrschte Harmonie und eine schöne bürgerliche Atmosphäre. Ich war Mitglied der Partei, genau wie mein Mann, was zu jener Zeit normal war. Über diese Zeit werden viele Lügen verbreitet. Man behauptet, man hätte seine traditionellen und religiösen Bräuche nicht ausüben dürfen. Aber in unserer Kleinstadt Modriča gab es beide Kirchen und eine Moschee und wir waren frei, unsere religiösen Feiertage zu feiern und die Kinder beschneiden oder taufen zu lassen. Ich habe in einem Warenhaus gearbeitet, wo es überwiegend Frauen gab, und wir alle haben unsere Weihnachts-, Slava- und Bajramkuchen mit in die Arbeit gebracht. Wir haben die Traditionen gewahrt, niemand hat uns daran gehindert, aber niemand hat uns auch dazu gedrängt. Es wurde in einer würdigen Ruhe gefeiert, still und ohne Lärm“, erzählt Frau Islamović mit einer Dosis Nostalgie.

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Nesihas Sohn Edin war bei der Beschneidung sechs Monate alt. Sie sagt, dass sie sie nicht geplant oder besonders organisiert hat. Alles passierte spontan. „Mein Mann war auf einer Reise, ich in der Arbeit. An diesem Tag kam die Frau des Hodžas ins Warenhaus gerannt und sagte, dass sie ihren Enkel beschneiden lassen würde. Sie kaufte ein Hemd und ein Handtuch als Geschenk für den Berber, der die Beschneidung durchführte. Weil die Arbeitszeit schon langsam zu Ende ging, sagte ich einer Kollegin, dass auch ich das bei meinem Sohn machen lassen könnte, denn eine Ärztin hatte mir bereits gesagt, dass die Beschneidung auch für die Gesundheit sehr gut sei. Ich kaufte also alles, was auch die Hodžafrau gekauft hatte, und bat sie, den Berber auch zu mir nach Hause zu schicken. Ich erwartete, dass die Wirtin des Hauses, in dem ich wohnte, das Kind während des Eingriffs halten würde, aber sie hatte schreckliche Angst und so gab ich, obwohl ich jung und unerfahren war, dem Berber des Kissen, auf das er das Kind legte, drehte den Kopf auf die andere Seite und hielt mein Söhnchen fest. Der Berber hatte eine echte Arzttasche und beschnitt das Kind mit einer Klinge und mit Handschuhen über den Händen. Später kamen die Frauen aus der Nachbarschaft mit Geschenken für meinen Sohn und ich servierte Kaffee, Saft und Kuchen. Als mein Mann heimkam, war er überrascht, aber auch glücklich, dass das passiert war, während er abwesend war, denn er hätte sich Sorgen gemacht. Der Berber besuchte uns noch einmal nach acht Tagen und untersuchte meinen Edin, aber alles war in Ordnung“, beendet Nesiha Islamović ihre Reise durch die Erinnerung.

Edin Islamović: „Ich weiß sehr gut, wer ich bin und was ich bin, und von der Tradition weiche ich nicht ab.“ (FOTO: Diva Shukoor)

Edin Islamović (45) – Privatunternehmer
Ich war ein ganz junger Bursche, als ich aus B-H nach Wien kam. Ich habe mich schnell an das neue Land mit seinen Menschen und Bräuchen angepasst, mich integriert, wie man heute so modern sagt. Als ich in meiner Ehe drei Kinder bekam, von denen einer mein Sohn Haris ist, habe ich keinen Moment daran gezweifelt, dass auch er beschnitten werden würde. „Das war einfach selbstverständlich, das ist Teil meines Wesens und gleichzeitig auch normal in einer multikulturellen Stadt wie Wien. Mein Verhältnis zum Glauben ist nicht sehr anders als das meiner Eltern und ich weiß sehr gut, wer ich bin und was ich bin. Von der Tradition weiche ich nicht ab.

Wir haben unseren Sohn nur auf Empfehlung eines Freundes in die Privatordination eines Arztes gebracht. Weil der sich ausschließlich mit der Beschneidung von Knaben beschäftigt, sprach er vor dem Eingriff ein Gebet, was diesem Akt eine besondere Bedeutung verlieh. Haris erhielt eine lokale Betäubung. Später weinte er vor Schmerzen, aber nach ein paar Tagen war alles OK. Für mich war ein Berber keine Option, denn ich wollte für mein Kind optimale medizinische Verhältnisse, die unerwünschte Folgen ausschließen sollten. Ich glaube, dass das zur elterlichen Verantwortung gehört. Ich weiß, dass Beschneidungen auch in einigen Krankenhäusern durchgeführt werden, aber ich hielt das so für die beste Lösung“, sagt Edin. Obwohl man annimmt, dass es für das Kind am leichtesten ist, wenn die Beschneidung kurz nach der Geburt erfolgt, war Haris bereist ein zweijähriger Bub, als er beschnitten wurde.

FEIER. Zu Ehren und für die Gesundheit des Kindes, für den „berićet“.

Weil er eine Zwillingsschwester hat, war die Versorgung der kleinen Kinder für die Eltern eine etwas größere Belastung. Aus diesem Grund verschoben sie den Eingriff. „Für die Verwandten und die engsten Freunde haben wir anlässlich der Beschneidung eine angemessene Feier in einem Wiener Restaurant organisiert. Man hat mir gesagt, dass man das so macht, und ich wollte den Brauch nicht verletzen. Ich betone, dass wir nur etwa dreißig Personen waren, denn ich wollte keinen Pomp, über den man sprechen würde, sondern nur ein Zusammensein zu Ehren meines Sohnes, d.h. für den „berićet“, wie man bei uns früher sagte, ganz im Sinne der Tradition, die in dem Land gepflegt wird, aus dem ich stamme“, unterstreicht Herr Islamović.

Das sagt der Arzt
Dr. Werner Geissler – Facharzt für Kinderchirurgie
Dr. Paul Fuchsiggasse 14, 2301 Neu-Oberhausen
„Die Beschneidung (Circumcision) ist der häufigste chirurgische Eingriff, der bei Kindern durchgeführt wird. Es gibt viele medizinische Indikationen, die das Entfernen der Vorhaut (die Beschneidung) erfordern. Das umfasst eine Verengung der Vorhaut (Phimose), eine rezidive Entzündung der Vorhaut, eine Verengung der Vorhaut infolge so einer Entzündung etc. In vielen Ländern wird die Beschneidung auch aus religiösen oder ethischen Gründen vorgenommen. Da bei diesen Personen keine medizinische Indikation besteht, übernimmt die Krankenkasse (WGKK) natürlich nicht die Kosten. Im deutschen Sprachraum wird die Beschneidung sehr kontrovers diskutiert. Tatsache ist aber, dass in einer kürzlich veröffentlichten afrikanischen Publikation festgestellt wird, dass bei 20.000 Patienten die Übertragungsrate sexuell übertragbarer Krankheiten in der beschnittenen Gemeinschaft erheblich vermindert werden kann.

Der ideale Zeitpunkt für den Eingriff ist ein bis zwei Wochen nach der Geburt. (FOTO: iStock Photo)

Ein weiterer Vorteil dieses Eingriffs liegt in der Verminderung der Zahl der Frauen, die an einem Gebärmutterhalskarzinom leiden, und auch Peniskarzinome kommen seltener vor. Die Beschneidung ist ein Eingriff, der fast nie unerwünschte Folgen hinterlässt und keine Komplikationen verursacht (die Komplikationsrate liegt unter 0,5 %). Natürlich hängt die Wahrscheinlichkeit von Komplikationen in erster Linie von der Erfahrung des Chirurgen ab. Im Unterschied zu Deutschland ist eine gewünschte Beschneidung in Österreich in jedem Alter möglich. Der ideale Zeitpunkt für den Eingriff ist ein bis zwei Wochen nach der Geburt. In dieser Zeit ist das Hämatokrit beim Kind noch hoch und darum ist die Gefahr von Blutungen geringer, und außerdem ist die Wundfläche kleiner und damit auch der postoperative Schmerz ist leichter. Das Verfahren wird unter lokaler Betäubung durchgeführt. Aber ab dem dritten Lebensmonat geschieht die Beschneidung in meiner Ordination unter Vollnarkose, denn die Größe der Blutgefäße erfordert eine präzisere Stillung der Blutung und es muss genäht werden. Ein Eingriff unter lokaler Betäubung ist nur möglich, wenn der Patient das zulässt, normalerweise ab dem 10. Lebensjahr.

Gesetzliche Grenzen
Nach Angaben der Weltgesundheitsorganisation sind heute über 30 % der männlichen Population beschnitten. Die Beschneidung ist in der muslimischen Welt, in Teilen Südostasiens, Afrikas, der USA, der Philippinen, Israels und Südkoreas üblich und kommt etwas seltener in Europa, Lateinamerika, Teilen Südafrikas und im größeren Teil Asiens und Ozeaniens vor. In den USA werden die meisten männlichen Kinder sofort nach der Geburt beschnitten, unabhängig von der Religion. Untersuchungen zufolge und aufgrund statistischer Daten der Krankenhäuser wird geschätzt, dass etwa 70 % der Amerikaner beschnitten sind.

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Australien hat die Praxis der nicht-medizinischen Beschneidung in öffentlichen Krankenhäusern 2007 verboten, aber die Ausführung der Operation in privaten Ordinationen ist weiterhin erlaubt. Aber auch in einigen EU-Ländern wurde dieser traditionelle Brauch vom Gesetzgeber unter die Lupe genommen, und zwar aufgrund von Beschuldigungen, dass durch die Beschneidung das Recht des Kindes verletzt würde, dass es sich um einen Barbarismus handele, dass die Knaben nach der Beschneidung einen Psychotherapeuten bräuchten, was dann auch zu gesetzlichen Auflagen führte. Als die Diskussion 2012 in Österreich aufkam und Forderungen nach einem gesetzlichen Verbot der Beschneidung (Circumcision) laut wurden, war das Hauptargument, dass damit die UN-Konvention über die Kinderrechte verletzt würde, in deren Artikel 24 es heißt, „dass alle effizienten und angemessenen Maßnahmen ergriffen werden müssten, um traditionelle Bräuche zu unterbinden, die für die Gesundheit von Kindern schädlich sind.“

ANSCHULDIGUNG. Die Beschneidung wurde vom Gesetz unter die Lupe genommen, da behauptet wurde, sie verletze die Kinderrechte. (FOTO: iStock Photo)

Das war der Versuch, die traditionelle Beschneidung von Buben mit dem inhumanen Eingriff an Mädchen (Klitoridektomie, der teilweisen oder vollständigen Entfernung der Klitoris), die in einigen Gegenden Afrikas durchgeführt wird, auf eine Stufe zu stellen. Aber der Verbotsantrag wurde nicht angenommen und die nicht-medizinische Beschneidung bzw. die Beschneidung aus religiösen Gründen darf seit 2013 frei durchgeführt werden. Schweden verabschiedete 2001 ein Gesetz, nach dem die nationale Gesundheitsbehörde religiösen Fachleuten Lizenzen ausstellt, mit denen sie Beschneidungen von Kindern unter Mitwirkung eines Arztes oder einer zur Verabreichung einer Anästhesie ausgebildeten Krankenschwester vollziehen dürfen. Diese Vorschrift wurde vom jüdischen Weltkongress scharf verurteilt und viele Kinder werden illegal beschnitten, d.h. ohne die vorgeschriebene Assistenz. Ein finnisches Gericht erklärte 2006 die Entscheidung von Eltern für illegal, ihren vierjährigen Sohn beschneiden zu lassen, aber es sprach keine Strafe aus.

Zwei Jahre später entscheid das Oberste Gericht Finnlands, dass die Beschneidung von Kindern aus religiösen Gründen, wenn sie ordnungsgemäß durchgeführt wird, keine Straftat ist. Die finnische Regierung erklärte damals die Legalisierung ritueller Beschneidungen, wenn sie von einem Arzt „im Einklang mit den Wünschen der Eltern und mit dem Einverständnis des Kindes“ vorgenommen würden. Aber im Dezember 2011 erklärte ein Bezirksgericht in Helsinki, dass der Beschluss des Obersten Gerichts nicht bedeutete, dass die Beschneidung aus jedem beliebigen nicht-medizinischen Grund legal ist. Das Gericht bezog sich auf die Konvention über Menschenrechte und Biomedizin des Europarats, die Finnland 2010 ratifiziert hat.