Start Aktuelle Ausgabe
REPORTAGE

Familie Todorović: Eine Frage der Identität – Wo fühlen sich unsere Kinder zu Hause?

FOTO: Diva Shukoor

IDENTITÄT. Die Frage der Identität stellt sich erst, wenn man sich seiner Zugehörigkeit nicht sicher ist. Migration, und das damit verbundene Aufeinandertreffen verschiedener Kulturen, Religionen und Nationalitäten führt zum Verlust der primären und zur Schaffung einer neuen Identität.

Die Identität des einzelnen oder ganzer Gemeinschaften lässt sich nicht auf eine einzige Dimension des Lebens reduzieren, denn sie umfasst ererbte und erworbene Erfahrungen. Neben der nationalen gibt es auch sprachliche, kulturelle, politische, sexuelle, berufliche und eine ganze Reihe weiterer Kriterien, die die Entwicklung einer Persönlichkeit bestimmen, die in der Lage ist, sich in der eigenen Haut wohlzufühlen. Wenn von Identität die Rede ist, denkt jeder einzelne an das, was ihm am wichtigsten ist, was ihn in dem Milieu, in dem er lebt, definiert, d.h. was ihn seiner Umgebung ähnlich macht oder von ihr unterscheidet.

Unsere Landsleute in Österreich und die Identität
Als sie anfangs zur „vorübergehenden“ Arbeit nach Österreich kamen, hatten unsere Landsleute eine klar definierte politische Identität, die sich im Land der Brüderlichkeit und Einheit entwickelt hatte. Das hat ihnen Kraft gegeben, auch als ihnen bewusst wurde, dass das „Vorübergehend“ zu „Endgültig“ wurde. Sie haben die Verbindung zum Mutterland in den Arbeiterclubs, in Folkloregruppen und in revolutionärer Poesie bewahrt und kamen über den Rahmen ihrer eigenen Gemeinschaft nicht hinaus. Diese erste Generation unserer Gastarbeiter hat keine großen Schritte in Richtung Integration unternommen. Aber mit der Gründung von Familien und der Geburt von Kindern begann dieser Prozess von ganz alleine, obwohl ihm die damaligen politischen Strukturen keine besondere Aufmerksamkeit widmeten. Heute weist bei Teilen der dritten und vierten Generation unserer Zuwanderer nur noch das IĆ am Ende des Namens auf ihr Herkunftsland hin. Niemand hat sie vor Assimilation geschützt.

Auf den Wogen der neuen Migrationen kommen immer mehr gebildete Menschen vom Balkan nach Österreich. Sie haben sich in der Diversität dieser Gesellschaft gut zurechtgefunden: Sie nehmen alles in dem Maße an, dass sie zu gleichberechtigten Bürgern Österreichs macht, und bewahren gleichzeitig die Besonderheiten ihrer primären Identität. Bei ihren Kindern pflegen sie die Verbundenheit mit den Wurzeln in dem Maße, dass sie nicht eingeschränkt werden, und machen sie offen für die positiven Einflüsse der modernen Zeit. In Gesprächen mit unseren Landsleuten gewinnt man den Eindruck, dass sie der Sprache die größte Bedeutung beimessen. Sie glauben, dass die Beherrschung des Deutschen der erste Schritt zum Aufbau einer neuen Identität ist, die sowohl balkanische als auch österreichische Elemente enthält.

LESEN SIE AUCH: Eine Frage der Identität – Wo fühlen sich unsere Kinder zu Hause?

  

IDENTITÄT. Die Frage der Identität stellt sich erst, wenn man sich seiner Zugehörigkeit nicht sicher ist. Migration, und das damit verbundene Aufeinandertreffen verschiedener Kulturen, Religionen und Nationalitäten führt zum Verlust der primären und zur Schaffung einer neuen Identität.

 

Familie Todorović
Die Umgebung verändert die Kinder

Sunčica (32) und Dalibor (35) sind seit sieben Jahren verheiratet und sind Eltern der sechsjährigen Helena. Beide stammen aus Smederevo, sind aber zu unterschiedlichen Zeiten nach Wien gekommen. „Ich war in der achten Klasse, als ich 1997 mitten im Schuljahr angekommen bin. Ich kam in eine Klasse voller unbekannter Kinder, aber schon am zweiten Tag fühlte ich mich wie in Serbien, denn nur drei Schüler kamen nicht aus Jugoslawien. Ich brauchte ein paar Jahre, um die Sprache zu lernen, aber als ich die Schule abgeschlossen hatte und als Disponent in einer Spedition zu arbeiten anfing, gab es unter den Kollegen einige Landsleute, aber viel mehr Österreicher und andere Ausländer. Mit ihnen allen habe ich eine gute berufliche Kommunikation, aber privat verkehren wir immer mit unseren Landsleuten“, erzählt uns Dalibor zu Beginn unseres Gesprächs und fügt hinzu, dass sich in den letzten 20 Jahren an seiner Mentalität und seiner Identität nicht verändert habe.

Seine Frau Sunčica jedoch sieht das anders:
„Als wir uns kennenlernten, hatte ich Arbeit, mir ging es gut und ich habe niemals daran gedacht, ins Ausland zu gehen. Aber dann verliebte ich mich in Dalibor und schon bald haben wir geheiratet, denn er war anders als die jungen Männer in Serbien. Es war offensichtlich, dass ihn das Leben im Ausland freundlicher, ruhiger und sogar fleißiger gemacht hatte. Meiner Meinung nach ist er ein typischer Österreicher und hat nichts Balkanisches an sich. Das gefällt mir. Er reagiert nie heftig, er lässt nicht zu, dass der Stress seine Ruhe untergräbt, und ich habe das Gefühl, dass es kein Problem gibt, das er nicht lösen kann. Auch darin unterscheidet er sich von den Burschen in Belgrad. Ich habe das Gefühl, dass auch ich mich in diesen sieben Jahren verändert habe. Das bemerken auch meine Freunde und Verwandten, wenn ich nach Serbien fahre.“

Dalibor Todorović: „Helena hat statt Deutsch angefangen Türkisch zu lernen und zu Hause auf muslimische Art zu beten.“ (FOTO: Diva Shukoor)

Sunčica besucht im Moment einen Deutschkurs und ist überzeugt, dass sie, wenn sie die Sprache erst besser beherrscht, intensivere Kontakte zu Österreichern pflegen wird. „Ich mag gerne die Andersartigkeit außerhalb unserer Gemeinschaft entdecken, und ich würde mir wünschen, dass das noch intensiver wird, wenn ich die Sprache beherrsche. Die Österreicher sind recht verschlossen, aber wenn sie jemanden annehmen, wenn man ihr Vertrauen erwirbt, dann sind sie lieb und herzlich, schätzen fremde Arbeit und sind nicht manipulativ. Mir gefällt ihre Mentalität“, betont sie. Wenn wir auf ihre Tochter zu sprechen kommen, sind sich die jungen Eltern einig, dass sie zu einer offenen Persönlichkeit heranwachsen und die hiesigen Werte ganz annehmen soll. Interessant ist ihre erste Erfahrung mit dem Kindergarten: „Der einzige freie Platz, den wir für Helena bekommen konnten, war in einem türkischen Privatkindergarten. Allerdings haben wir da bemerkt, dass Helena anfing, Türkisch zu sprechen, statt Deutsch zu lernen, und zu Hause betete sie auf muslimische Weise.

Wir sind absolut für Multikulturalität, aber nicht für solche Bekundungen außerhalb unserer Identität. Natürlich haben wir den Kindergarten gewechselt. Ehrlich gesagt, hätte ich gerne, dass sie immer weiß, wer sie ist und woher sie kommt, und dass sie mit unserer Kultur und unseren Sitten in Kontakt bleibt, obwohl uns bewusst ist, dass sie die hiesige Mentalität annehmen wird. Wir werden ihre Beziehung zu ihren Wurzeln pflegen und die Umgebung wird ihr alles geben, was für dieses Land charakteristisch ist.“ Und Helena, eine kleine Plaudertasche, geht gerne in die Schule und sagt, dass ihr bester Freund Lenox heißt. Aber auf die Frage, ob sie Serbin oder Österreicherin ist, sagt sie ohne nachzudenken, dass sie Österreicherin ist, da sie hier geboren ist, dass sie aber Serbin ist, wenn sie nach Serbien fährt, weil dort alle Serbisch sprechen.

INTEGRATION. Das ist der Schlüsselfaktor, wenn wir in einem Land und einer Kultur leben, die nicht unsere ursprünglichen sind.

VERÄNDERUNG. Für die erste Generation war Österreich die zweite Heimat, aber für ihre Enkel ist es zur ersten Heimat geworden.

Olja Ivanović Vladušić, Magistra der Psychologie
Meine Erfahrung begann mit meiner Ankunft in Österreich, als unser Sohn fünf Jahre alt war. Im Kindergarten sprach er nach sechs Monaten fließend Deutsch, und zu Hause haben wir weiterhin Serbisch gesprochen. In der Schule lernt er die lateinische Schrift und zu Hause lesen wir auf Kyrillisch. Das orthodoxe Weihnachtsfest feiern wir in Serbien, wo er Gelegenheit hat, unsere Bräuche und unsere Kultur kennenzulernen, die ihm vor allem Oma und Opa vorleben, und in Wien, in der Schule lernt er mit seinen Freunden die hiesigen Bräuche kennen. Ihm ist bewusst, woher er stammt, wir zeigen ihm unsere Tradition und unsere Kultur, aber wir ermöglichen ihm natürlich jede Art der Integration in die neue Umgebung, den Einfluss der neuen Kultur, Sprache und Mentalität. Wir glauben, dass ihn das als Person bereichert, so wie auch mich meine mit ganz authentischen Farben gezeichneten Lebenserfahrungen in Bosnien-Herzegowina, Montenegro, Serbien, Amerika und jetzt auch in Österreich bereichert haben.

Die Psychologin: „Die Eltern sind Vorbilder und prägen das Gehirn und das Leben des Kindes.“

Neben der Integration sind die ersten drei bis vier Lebensjahre für die Persönlichkeitsentwicklung am wichtigsten. Da passiert das, was wir Formung und Entstehung der authentischen Persönlichkeit eines Kindes nennen können, Formung der Identität, die ihr endgültiges Gesicht in der Phase der Adoleszenz erhält. Die Identität und das Erkennen ihrer Bedeutung haben eine lange Entwicklung durchlaufen. Aber ich will mich nicht mit Definitionen aufhalten, sondern zu dem kommen, was wir Eltern tun können, um unseren Kindern zu ermöglichen, am Ende mit sich selbst im Reinen zu sein. Denn ist das nicht das endgültige Ziel? Wenn wir mit uns selbst im Reinen sind, wenn wir uns in unserer Haut wohlfühlen, dann, glaube ich, werden wir uns auch in jedem Land wohlfühlen, in dem wir leben, egal, welche Sprache wir dann sprechen. Auf diesem Wege ist das, was wir für das Kind tun können und müssen, dass wir die Bedingungen dafür schaffen, dass es das entwickeln kann, was in ihm steckt, dass wir ihm ermöglichen, das zu werden, was die Natur für es vorgesehen hat. Wir müssen dem Kind keine bestimmten Verhaltensweisen beibringen, müssen es nicht zurechtstutzen und formen, sondern ihm einfach die Voraussetzungen bieten, dass die Entwicklungsprozesse in ihm ablaufen können, wie sie es sollen. So bekommen wir am Ende auch das, was wir gutes Benehmen nennen, denn das Kind hat die Chance, sein Potential optimal zu entwickeln und seine authentische Persönlichkeit wird am Ende zu Tage treten.

Die älteren Generationen sagen gerne, dass sie Jugoslawen sind und Serbokroatisch sprechen.

Und so wird es sich auch in seiner Haut und in der Welt, in der es lebt, wohlfühlen. Und diese Welt unterscheidet sich heute real, formal und in ihrem Wesen von der, in der frühere Generationen aufgewachsen sind. Ich glaube, dass die Integration auch in der Situation, dass wir in einem Land und in einer Kultur leben, die nicht unsere eigenen sind, einen Schlüsselfaktor bildet. Und dass sie in diesem Fall auch die Integration aller unserer Erfahrungen bildet: Das sind auf der einen Seite die unserer Herkunft, unserer ursprünglichen Tradition, Mentalität, Kultur, Sprache etc. und auf der anderen Seite die unserer neuen Umgebung und aller Erfahrungen, die diese mit sich bringt. Erst wenn wir beide Seiten in uns akzeptieren und zu unserer einzigartigen, authentischen Kombination integrieren, können wir das ganze Potential unseres Lebens auch hier empfinden. Das gilt auch für unsere Kinder. Das alles beginnt mit uns Eltern als Vorbildern und Gestaltern des Gehirns und des Lebens unseres Kindes. Wir sollten ihnen Erfahrungen bieten, die zu ihrer Integration beitragen, und ihnen ermöglichen, ihr volles Potential zu entwickeln.

Vera Marjnaovic
Meine Berufung zur Journalistin entdeckte ich bereits als Sechzehnjährige während meiner Gymnasialzeit in Montenegro. Diesem Berufszweig bin ich seither treu geblieben. Nach meiner Ankunft in Wien widmete ich mich der Arbeit mit Mitgliedern der BKS-Gemeinschaft, wodurch ich tiefgreifende Einblicke in die Lebensgeschichten und sowohl die Triumphe als auch die Herausforderungen verschiedener Generationen gewann. Diese vielfältige Palette an Persönlichkeiten prägte meinen journalistischen Weg und festigte mein Engagement für soziale Themen.