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INTERVIEW

„Integration verlangt nach einem ‚wir’”

Jürgen Czernohorszky Interview 2017
(FOTO: Radule Božinović/KOSMO)

Der Wiener Stadtrat Jürgen Czernohorszky sprach mit uns über die Wichtigkeit der gesellschaftlichen Vielfalt und warum diese für Wien unabdingbar ist.

KOSMO: Warum denken Sie, wird Integration von Migranten oftmals als Top-down-, von der Mehrheitsgesellschaft jedoch als Bottom-up-Prozess verstanden?
Jürgen Czernohorszky: Ich bin mir nicht sicher, ob man diesen Unterschied so konstruieren kann. Was ich jedoch schon glaube ist, dass es einen Diskurs der Integration gibt, der ein „Wir“ und ein „Sie“ konstruiert. Dies ist einer Meinung nach ein falscher Zugang, da Gesellschaft generell nicht so funktioniert und das Ziel von Integration immer ein gemeinsames und friedliches Zusammenleben sein muss. Das geht aber nur dann, wenn jeder in dieser Gesellschaft eine Rolle spielt, einen Platz hat, sich selbst entfalten und verwirklichen kann. Somit muss jeder der hier lebt, die Möglichkeit haben bei dem Spiel, das Gesellschaft heißt, mitzuspielen. Die Aufgabe der Politik ist es daher, aus dem „Wir und sie“ ein „Wir“ zu machen.

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Im Auftrag des Österreichischen Integrationsfonds (ÖIF) befragte der Meinungsforscher von GfK Austria, Rudolf Bretschneider, 1.000 Österreicher ab dem 16. Lebensjahr.

 

Zählt das EU-Projekt „CORE“ zu einer der Maßnahmen, um diesem Verständnis entgegenzuwirken?
„CORE“ ist ein gutes Beispiel für eine zweite zentrale Botschaft. Integrationspolitik soll nicht nur als Hilfe für jemanden verstanden werden, der diese braucht, sondern auch als Empowerment und damit als Unterstützung, um auf eigenen Beinen zu stehen. Bei diesem Projekt geht es darum, Flüchtlinge dabei zu unterstützen, das Leben selbst in die Hand zu nehmen. Es handelt es sich um einen Versuch, die vielen Dinge, die es bereits gibt, an einem Ort zu bündeln. Dazu gehören der Zugang zu Sprachkursen, Beratung bei Unternehmensgründung, Gesundheitsfragen, Jugendprojekte und vieles mehr.

„Es wäre nicht nur ziemlich unredlich, sondern dumm, sich die Vielfalt aus Wien einfach wegzuwünschen”, unterstrich Stadtrat Jürgen Czernohorszky

Warum ist Ihnen dies ein Anliegen, Projekte zu unterstützen, die Menschen mit Migrationshintergrund vermehrt im öffentlichen Sektor positionieren möchten?
Eine Stadtverwaltung ist dafür da, die Stadt nicht nur bestmöglich zu organisieren, sondern auch zu repräsentieren. Daher ist es der grundlegende Gedanke, dass die Administration so aufgebaut sein sollte, wie es auch die Gesellschaft ist. So ist es der Stadt Wien als Arbeitgeberin ein Anliegen, die Vielfalt der Wienerinnen und Wiener abzubilden. Keine Frage, da gibt es Luft nach oben, was Frauen in Führungspositionen, sowie die Repräsentanz unterschiedlicher kultureller Wurzeln betrifft. In Wien hat ungefähr die Hälfte der Bewohnerinnen und Bewohner Migrationshintergrund. Warum sollte es dann auch nicht die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Stadt haben?

(FOTO: Radule Božinović/KOSMO)

Apropos Migrationshintergrund: wir bekommen regelmäßig Leserpost, worin genau dieser Begriff kritisiert wird.
Meiner Meinung nach geht es bei Begriffen darum, die Wirklichkeit möglichst treffsicher zu beschreiben. Es geht nicht um ein Mehrheits- und Minderheitsverhältnis, sondern um Normalität. Dem kommt der Begriff Migrationshintergrund entgegen. Andererseits hat der Begriff Migrationshintergrund mittlerweile eine Omnipräsenz, sodass er an Treffsicherheit verliert. Am vernünftigsten ist es, je nach Fragestellung die richtige Zahl bzw. den treffendsten Begriff zu verwenden, um sinnvolle Politik auf Basis von Tatsachen und nicht von Symbolen zu machen.

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Derzeit wird die Doppelstaatsbürgerschaft heiß diskutiert. Gibt es in diesem Bereich gesetzliche Änderungen oder Neuerungen?
Was die gesetzliche Lage betrifft kam es anlässlich der Diskussionen zu keinen Änderungen. Diese könnte man auf Bundesebene selbstverständlich diskutieren. Derzeit gilt, dass man sobald man die österreichische Staatsbürgerschaft annimmt, eine andere ablegen muss – sofern dies das andere Land zulässt. Es ist die Aufgabe der Bundesländer all jenen Fällen nachzugehen, wo der Verdacht besteht, dass dies nicht rechtmäßig passiert ist oder eine zweite Staatsbürgerschaft nachträglich wieder angenommen wurde. Besonders wichtig ist, dass die Verdachtsfälle sorgfältig überprüft werden. Was ich mir auf keinen Fall wünsche ist, dass es hier zu Pauschalverurteilungen von unbescholtenen Bürgerinnen und Bürgern kommt.

„Die Aufgabe der Politik ist es, aus dem „wir und sie“ ein „wir“ zu machen.” – Jürgen Czernohorszky

(FOTO: Radule Božinović/KOSMO)

Unter Integrationsarbeit wird oftmals nur die Arbeit mit Migranten verstanden und andere marginalisierte Gruppen ausgegrenzt. Wie kommentieren Sie das?
Ich bin auch der Meinung, dass Integrationspolitik mehr als die Integration von Menschen mit anderen kulturellen Wurzeln bzw. Herkunftsländern umfasst. Wien ist als Millionenstadt sehr vielfältig, und es wäre nicht nur ziemlich unredlich, sondern dumm, sich diese Vielfalt wegzuwünschen. Die Frage ist, ob wir es als Gesellschaft schaffen, daraus eine Stärke zu machen. Wenn wir uns abschotten, dann führt das zwangsgedrungen zu einem Rückgang von ganz vielen Dingen, die Wien in Wirklichkeit ausmachen.