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REPORTAGE

Ljiljana S.: „Sie haben mich gegen meinen Willen verheiratet!“

FOTO: Diva Shukoor

GEWALT. Kinderehen gelten dem Gesetz nach als eine Form von Gewalt, denn die Opfer können sich aufgrund ihres Alters nicht wehren. Der Hintergrund ist Armut in den Randschichten der Gesellschaft, die zu einem Mangel an Bildung und blinder Befolgung von Traditionen führt.

Die Bilder von Mädchen in Hochzeitskleidern mit Buben oder sogar manchmal erwachsenen Männern als Bräutigamen, die die Medien bisweilen veröffentlichen, berühren uns emotional und machen uns sprachlos und wütend. Von Zeit zu Zeit dringen Informationen zu uns, dass eines dieser geopferten Mädchen nach der Hochzeitsnacht oder bei der Geburt gestorben ist. Und wieder spüren wir Mitleid und tiefes Bedauern, und dann vergessen wir es wieder bis zur nächsten Nachricht. Meistens passieren die schlimmsten Bestialitäten in der Ferne, in Nigeria, im Jemen oder der Türkei, und die räumliche Distanz erleichtert das Vergessen.

Aber Kinderehen werden auch bei uns geschlossen, im zivilisierten Europa, und in Amerika, der Wiege der Demokratie und der Menschenrechte, sind sie sogar ausgesprochen häufig. Denn durch die Zuwanderung aus fernen Teilen der Welt mit ihren verschiedenen Kulturen kommen auch unerfreuliche Bräuche zu uns, denen die Gesetzgebung entgegenzuwirken versucht. KOSMO bringt Ihnen Bilder früher Ehen in der Roma-Population, die uns am nächsten ist. Aber um Missverständnisse zu vermeiden: Sie ist nicht die von diesem schweren Problem am meisten betroffene Gemeinschaft.

Ljiljana S. (47) erzählt mit einer guten Dosis Humor von ihrem Schicksal, denn viel Zeit ist vergangen, seitdem ihr ihr Vater eröffnet hatte, dass sie einen Burschen heiraten sollte, den sie nicht kannte, und behauptete, dass er ihr, weil er gut und fleißig sei, auch ein guter Ehemann sein würde.


„Ich war 16 Jahre alt. Nach Abschluss der zehnten Klasse bin ich nach Deutschland gegangen, wo meine Tante ein Restaurant hatte. Ich wollte ihr ein bisschen helfen und von dem Geld, das ich verdienen würde, wollte ich mich auf die Führerscheinprüfung vorbereiten. Außerdem wollte ich meine Ausbildung weitermachen und selbständig werden. Alles hatte ich gut geplant, als mich eines Tages mein Vater anrief und forderte, dass ich nach Serbien zurückkehren und heiraten sollte. Ruhig erzählte er mir, dass er einen feinen Burschen aus einer guten Familie gefunden hätte, der 21 Jahre alt war. Er hatte keinerlei Zweifel an meinem Gehorsam und fragte mich nicht, ob ich das wollte“, beginnt die starke und sympathische Frau ihre Geschichte.

Sie war es gewohnt, dem Familienoberhaupt zu gehorchen, und kehrte schweren Herzens nach Hause zurück. Schon am folgenden Tag erschienen die Brautwerber. Die Heirat wurde vereinbart und die Vorbereitungen begannen.

EHRLICH. „Meine Heirat hat keine finanzielle Vereinbarung zwischen meinem Vater und dem zukünftigen Ehemann beinhaltet, denn bei uns ist das nicht üblich. Ich hatte das Gefühl, dass das alles nicht mir passierte. Es war mir egal, in welches Kleid sie mich steckten, wie sie mich zurechtmachten, ob ich eine schöne Braut war“, sagt Ljiljana S. (FOTO: Diva Shukoor)

„Bei meiner Heirat gab es keine finanzielle Vereinbarung zwischen meinem Vater und dem meines zukünftigen Mannes, denn das ist bei uns nicht üblich. Der Bursche war respektabel, seine Familie ebenfalls, aber ich träumte von etwas anderem. Ich hatte das Gefühl, dass all das gar nicht mir passierte. Mir war es egal, welches Kleid ich tragen sollte, wie man mich ausstaffieren würde, ob ich eine schöne Braut sein würde und wie sein Haus aussah. Nach der dreitätigen Hochzeitsfeier, die lustig und üppig war, eben nach typischer Roma-Tradition, brachten sie mich in mein neues Zuhause.

Ich übernahm die Pflichten der Hausfrau, erfuhr aber schon nach Kurzem, dass mein Bräutigam die Nacht nach dem ersten Hochzeitstag, statt sich für die weitere Feier auszuruhen, mit einer Frau verbracht hatte, die bei unserer Hochzeit zu Gast war. Er traf sich auch weiterhin mit ihr und verbarg das nicht einmal, denn er dachte nicht, dass mich das verletzen könnte. Um ehrlich zu sein, tat es mir nicht allzu weh, denn ich liebte ihn nicht und wollte mein Leben gar nicht mit ihm verbringen“, fährt Ljiljana ohne Bedauern in der Stimme fort.

Obwohl sie in einem anderen Ort lebten, drangen die Nachrichten vom Benehmen des Schwiegersohns bis zu Ljiljanas Eltern. Drei Monate nach der Hochzeit kamen sie und holten ihre Tochter ab, denn sie wollten sie nicht in einer solchen Ehe lassen.

14 Millionen Mädchen werden jedes Jahr
vor ihrem 18. Geburtstag verheiratet.

Jedes 3. Mädchen aus den Entwicklungsländern heiratet
vor dem 18. Lebensjahr.

Jedes 9. Mädchen aus den Entwicklungsländern heiratet
vor dem 15. Lebensjahr, manche sogar schon mit 8 oder 9 Jahren.

Wenn dieser Trend anhält,
werden in den kommenden Jahrzehnten 150 Millionen Mädchen
vor ihrem 18. Geburtstag verheiratet werden.

„Auf diese Weise zeigte mir mein Vater, dass ihm mein Glück doch am Herzen lag. Mir war es nur wichtig, dass ich nicht die Schuld an der Auflösung der Ehe und meinem Auszug aus seinem Haus zugeschoben bekam. Glücklicherweise hatten wir nicht geheiratet und so gab es keine rechtlichen Komplikationen um eine Scheidung. Nach einiger Zeit entschied ich mich, nach Wien zurückzukehren, wo ich mit meinen Eltern die Kindheit verbracht hatte und wo ich sogar ein paar Jahre in die Schule gegangen war. Ich habe nicht mehr geheiratet, denn mir war es immer am wichtigsten, dass ich alleine über mein Leben bestimme. Meinem Vater habe ich schon längst verziehen, denn ich weiß, wie tief die Tradition in den Menschen verwurzelt ist“, betont die Dame.

5-mal höher ist die Wahrscheinlichkeit, dass ein Mädchen von 15 Jahren bei einer Geburt stirbt, als dass das einer Frau in den Zwanzigern geschieht.

2-mal höher ist die Wahrscheinlichkeit, dass ein Kind, das von einer Minderjährigen geboren wird, vor seinem ersten Geburtstag stirbt, als das bei dem Kind einer Zwanzigjährigen der Fall ist.

Vera Marjnaovic
Meine Berufung zur Journalistin entdeckte ich bereits als Sechzehnjährige während meiner Gymnasialzeit in Montenegro. Diesem Berufszweig bin ich seither treu geblieben. Nach meiner Ankunft in Wien widmete ich mich der Arbeit mit Mitgliedern der BKS-Gemeinschaft, wodurch ich tiefgreifende Einblicke in die Lebensgeschichten und sowohl die Triumphe als auch die Herausforderungen verschiedener Generationen gewann. Diese vielfältige Palette an Persönlichkeiten prägte meinen journalistischen Weg und festigte mein Engagement für soziale Themen.