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170 JAHRE

Wiener Abkommen: Grundstein für die serbokroatische Sprache

(FOTOS: Wikimedia Commons, National and University Library in Zagreb)

Vor genau 170 Jahren unterzeichneten namhafte südslawische Literaten und Philosophen in Wien eine Literaturvereinbarung, mit der der Grundstein für das ehemalige Serbokroatisch und für die heutigen getrennten Standardsprachen gelegt wurde.

Die Vereinigung der Sprachen begann bereits mit dem Toleranzedikt von 1781, mit dem den nichtkatholischen, aber christlichen Minderheiten in Österreich-Ungarn die Ausübung ihres Glaubens erlaubt wurde. Angeregt durch diese größere Freiheit begannen zahlreiche kroatische und serbische Intellektuelle, einen Prozess der Kodifizierung der südslawischen Sprachen zu initiieren.

Auf serbischer Seite führten vor allem Dositej Obradović und Sava Mrkalj diesen Prozess an. Zu dieser Zeit waren die Linguisten in zwei Lager gespalten. Während die einen sich für eine slawoserbische Sprache einsetzten, d.h. für die liturgische russisch-kirchenslawische Variante der Sprache, forderten andere Intellektuelle wie Vuk Stefanović Karadžić, die Volkssprache zur Grundlage der Literatursprache zu machen. In Kroatien beschäftigte sich die illyrische Bewegung stark mit dem Thema der Standardisierung der Sprache.

Mitte des 19. Jahrhunderts waren im ganzen Land mehrere philosophische Schulen entstanden und es wurde sogar eine Sprachreform durchgeführt, die für das Zustandekommen der Wiener Literaturvereinbarung wegweisend war. Neben den wichtigsten  Schriftstellern der illyrischen Bewegung, Ivan Mažuranić und Petar Preradović, setzte sich auch Vuk Karadžić für eine gemeinsame Sprache aller Kroaten und Serben ein. Im Jahr 1845 schrieb Karadžić, dass „jedes Buch Buchstabe für Buchstabe von der lateinischen Schrift in die slawische und von der slawischen Schrift in die lateinische übertragen werden kann“. Diese Idee unterstützen auch Jernej Kopitar und Jakob Grimm.

Aber die größte Revolution vollzog sich in dieser Hinsicht drei Jahre später auf dem Prager Slawenkongress. Danach, und zwar genau am 28. März 1850, trafen sich Ivan Kukuljević, Ivan Mažuranić, Vuk Karadžić, Vinko Pacel, Franc Miklošić, Stefan Pejaković und Đuro Daničić in Wien, um die Literaturvereinbarung zu unterzeichnen. Der Ort ihres Treffens konnte bis heute nicht genau ermittelt werden, aber man nimmt an, dass die feierliche Unterzeichnung in der Wohnung Vuk Karadžićs in der Ungargasse im dritten Wiener Bezirk stattfand. Der südslawische Intellektuellengipfel einigte sich auf die Grundregeln für eine gemeinsame Sprache der Serben und Kroaten und beschloss:

  • dass es nicht gut ist, die Dialekte zu mischen und etwas Neues zu schaffen, das es im Volk nicht gibt, sondern dass es besser ist, aus den Volksdialekten einen auszuwählen und ihn zur Literatursprache zu machen.
  • dass der literarische Dialekt ein südlicher Dialekt sein soll, bzw. der stokavische Dialekt und die ijekavische Aussprache, weil der Großteil des Volkes so spricht, weil fast alle Volkslieder in diesem Dialekt gesungen werden und weil die alte Dubrovniker Literatur in ihm geschrieben ist.
  • dass an den Stellen, an denen zwei Silben gesprochen werden, ije geschrieben wird, und dass dort, wo nur eine Silbe gesprochen wird, je oder e oder i geschrieben wird, so wie es jeweils richtig ist (zum Beispiel bijelo, bjelina, mreža, donio).
  • dass auch die Literaten des östlichen Religionsbekenntnisses das h überall wiedereinführen, wo es seinen etymologischen Platz hat.
  • dass das h am Ende von Nomen im Plural nicht geschrieben werden muss (z.B. zemaljah, otacah).
  • dass vor dem r, wo es selbständig eine Silbe bildet, weder a noch e geschrieben werden, sondern dass dort nur das r steht (z.B. prst statt perst).

Obwohl die Wiener Literaturvereinbarung von wichtigen und einflussreichen Persönlichkeiten unterzeichnet wurde, wurde diese Vereinbarung nie verbindlich. Sie bildete nur eine inoffizielle Richtlinie, die im Verlaufe der weiteren Geschichte zum Grundstein für die Entwicklung der gemeinsamen serbokroatischen Sprache wurde. Der große kroatische Philologe Vatroslav Jagić schrieb, dass die Wiener Literaturvereinbarung von den „vorzüglichsten Söhnen unseres Volkes geschaffen wurde, auf die die Heimat noch heute stolz ist“. Ljudevit Gaj sagte: „Wir sind stolz und danken Gott, dass wir Kroaten eine gemeinsame Literatursprache mit unseren serbischen Brüdern haben.“