Spätestens mit der Corona-Pandemie und ihren Lieferkettenproblem kam unter Ökonomen das Konzept des Nearshorings auf. Gemeint ist damit die Verlagerung oder der Aufbau von Produktionsstätten oder Aktivitäten in der EU oder ihrer Umgebung, um damit näher an den europäischen Absatzmärkten zu sein.
In einer neuen Studie hat sich das Wiener Institut für Internationale Wirtschaftsvergleiche (wiiw) in Kooperation mit den Handelskammern der sechs Westbalkanstaaten, Albanien, Bosnien-Herzegowina, Kosovo, Montenegro Nordmazedonien und Serbien nun angesehen, wie es um das Nearshoring am Westbalkan steht. Untersucht wurde dabei auch die Frage, inwieweit es diesen Staaten gelingt, Investitionen in grüne Technologien und erneuerbare Energien anzuziehen.
Nearshoring findet statt, vor allem in Bosnien-Herzegowina, Kosovo und Nordmazedonien. Die Zuflüsse ausländischer Direktinvestitionen in diese Länder waren zwischen 2020 und 2023 signifikant höher als der langfristig errechnete Gleichgewichtswert. „Unsere Analyse identifiziert aber konkrete Fälle von Nearshoring in fünf der sechs Westbalkanländer, nämlich in Albanien, Bosnien und Herzegowina, Kosovo, Nordmazedonien und Serbien“, sagt Branimir Jovanovic, Ökonom am wiiw und Hauptautor der Studie. Große neue Projekte bei erneuerbaren Energien gibt es etwa in Albanien, Bosnien-Herzegowina, Montenegro, Nordmazedonien und Serbien. „Das verdeutlich das Potenzial der Region für die grüne Transformation“, betont Jovanovic.
Firmen aus Asien suchen Nähe zur EU
Ausländische Industrieunternehmen setzen vor allem auf Albanien, Bosnien-Herzegowina, Kosovo, Nordmazedonien und Serbien. Bemerkenswert dabei ist, dass viele von ihnen aus China, Japan und Südkorea kommen. „Unternehmen aus Asien gehen sehr strategisch vor und bauen ihre Produktionsstätten sehr bewusst in großer Nähe zu den wirtschaftlichen Kernländern der EU, um ihre Lieferketten zu verkürzen“, erläutert Jovanovic.
Für die Untersuchung wurden auch 17 ausländische Investoren am Westbalkan nach ihren Motiven befragt. Sie bestätigten im Wesentlichen die Bedeutung von Produktionsansiedelungen in geografischer Nähe zur EU, um Lieferkettenproblemen und geopolitischen Risiken auszuweichen. Zudem hoben sie auch die Bedeutung von Umweltschutz und CO2-Reduktion hervor. „Wenn es lokalen Zulieferern gelingt, bei der Ökologisierung Fortschritte zu machen, bietet ihnen das aus unserer Sicht große Chancen, sich in internationale Lieferketten einzuklinken und so zu wachsen“, meint Jovanovic.
Investoren kommen auf den Geschmack
Eine weitere Umfrage unter 65 ausländischen Firmen, die am Westbalkan investiert haben, nannte als wichtigste Gründe für diese Entscheidung die günstige geografische Lage, qualifizierte Arbeitskräfte und niedrige Löhne. Negativ gesehen wurden schlechte Regierungsführung, Korruption, mangelnde Rechtsstaatlichkeit, schwache Institutionen und mangelhafte Infrastruktur. Insgesamt waren 72 Prozent mit ihrer Entscheidung zufrieden, elf Prozent gaben an, Aktivitäten von einem entfernteren Standort näher an die EU herangerückt zu haben. Zwei Drittel der ausländischen Unternehmen betrachten den Westbalkan zudem als attraktiven Standort für grüne Investitionen, wobei ebenfalls rund zwei Drittel von ihnen mehr investieren würden, wenn es dort Fortschritte bei der Dekarbonisierung gäbe. Sehr oft suchen diese Firmen nämlich nach umweltfreundlichen Lieferanten vor Ort.
Wo diese auf dem Weg zu einer nachhaltigen Produktion stehen, zeigt eine Umfrage unter 382 lokalen Unternehmen. Ergebnis: Zwei Drittel der Firmen in den Westbalkanstaaten sind mit Strategien zur CO2-Reduktion vertraut. Viele von ihnen sehen darin eine wirtschaftliche Chance, die ihre Exportchancen in die EU erhöhen könnten. Einig waren sich die befragten Unternehmen aber darin, dass es dafür finanzielle Unterstützung braucht.
„Neben der Lösung altbekannter Probleme wie schlechter Regierungsführung, Korruption und desolater Infrastruktur sollten die Regierungen der sechs Westbalkanstaaten daher vor allem einheimischen Firmen dabei helfen, grüner zu werden und die Kooperation mit ausländischen Unternehmen zu vertiefen“, so Jovanovic und ergänzt: „Besonders österreichische Firmen, die bei Umwelttechnologien traditionell stark sind, könnten in Zukunft besonders davon profitieren.“
Folge uns auf Social Media!