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INTERVIEW

„Bosniaken, Kroaten und Serben unterscheiden sich nur durch den Glauben“

„Die jungen Menschen in der Diaspora kennen nichts anderes. Sie kennen die Anderen nur als Nachbarvölker und aus den Geschichten über den Krieg", erklärte Klasić. (FOTO: zVg.)

Der angesehene Historiker und Professor an der Universität Zagreb Hrvoje Klasić fand in den vergangenen Tagen aufgrund eines Drohbriefs mit Ustaša-Gruß starke Medienbeachtung. Dabei stößt er oft auf Kritik, denn er nimmt kein Blatt vor den Mund, wenn er auf das Problem des historischen Revisionismus und Relativismus auf den Balkan hinweist.

KOSMO: Ist die Relativierung der Ustaša-Bewegung auf offizieller und sozialer Ebene eine reale Gefahr für Kroatien?
Hrvoje Klasić: Die Relativierung der Ustaša-Bewegung ist eine Realität und die besteht nicht erst seit gestern oder seit ein paar Jahren, sondern sie begann in den 90-ern, d.h. mit der Bildung des demokratischen Kroatien, in dem von Anfang an aufgrund der damaligen Ereignisse ein Narrativ herrschte, nach dem eine Überhöhung des Kommunismus und des Partisanentums völlig inakzeptabel war. In dem Moment, in dem dieses Narrativ unerwünscht wird, entsteht ein paralleles Narrativ, das akzeptabel wird, und alle, die irgendwann gegen Jugoslawien und den Kommunismus gekämpft haben, werden kroatische Patrioten und für ihr Vorgehen entsteht Verständnis, selbst für ihre Verbrechen. Das ist der Moment, in dem die Ustaša-Ideologie allmählich nach Kroatien eindringt. Dieses Parallele besteht also schon die ganze Zeit, seit den 90-er Jahren. Es gibt ein offizielles Narrativ, nach dem alles super ist, der Staatspräsident, der Antifaschist ist, in der Verfassung ist der Antifaschismus verankert usw. Aber mit der Zeit wird das inoffizielle Narrativ dominanter. Wir können sagen, dass das offizielle und das inoffizielle zwei Extreme sind, und leider ist die Folge dieses Widerspruchs das, was wir heute haben.

Wie stehen die Dinge in den Nachbarländern, z.B. mit Bezug auf die Četnik-Bewegung in Bosnien-Herzegowina und Serbien?
Zuerst möchte ich betonen, dass die Četnik- und die Ustaša-Bewegung nicht auf dieselbe Weise entstanden sind und nicht gleichgesetzt werden sollten. Die Četniks waren ihrer Entstehung nach Überreste des legitimen königlichen Heeres, das zu Beginn des Zweiten Weltkriegs den Kampf gegen die Okkupation geplant und sogar mit den Partisanen zusammengearbeitet hat. Allerdings sind sie sehr schnell in Kollaboration und Verbrechen hineingeraten. So hat sich die Četnik-Bewegung zu einem gewissen Zeitpunkt auf schwere Verbrechen vor allem gegen die muslimische, aber auch gegen die kroatische Bevölkerung eingelassen. In Serbien passiert heute Ähnliches wie auch in Kroatien: Widerstand gegen die Partisanen als Symbole Jugoslawiens und Hinwendung zum anderen Extrem, das ausschließlich, irrational und religiös ist. Das hat zur Folge, dass wir heute in Kroatien respektierte Patrioten haben, die sich Ustaša nennen, und in Serbien Četniks. Statt auf die Partisanenbewegung stolz zu sein, wenden sie sich einer völlig falschen Bewegung zu, die es überhaupt nicht verdient hat, als eigene patriotische Bewegung anerkannt zu werden, egal, wie sie sich nennt.

„Mit der Vergangenheit setzen wir uns auf ganz falsche Weise auseinander.“

Warum hat sich in Kroatien eine größere Animosität gegenüber Tito entwickelt als in Serbien und Bosnien-Herzegowina?
Das muss alles durch das Prisma des Krieges betrachtet werden. Wo mehr gekämpft wurde und wo die Rolle der Jugoslawischen Volksarmee eine negative Konnotation bekommen hat, ist der Widerstand gegen alles, was damit in Verbindung gebracht werden kann, stärker. Da der Austritt Kroatiens aus dem jugoslawischen Staatsverband durch den Krieg verwirklicht wurde, und zwar in Kämpfen gegen Einheiten der JNA und serbischer Freiwilliger sowie gegen die lokale serbische Bevölkerung, wird das alles mit Jugoslawien und mit Belgrad assoziiert. Offiziell ist Tito als Vorsitzender der Kommunistischen Partei verantwortlich für die Racheaktionen, die nach dem Zweiten Weltkrieg stattgefunden haben, und auch für die Ereignisse rund um den Kroatischen Frühling 1971. All das führte zu einem negativen Verhältnis zu Tito in der politischen Elite und in einem Teil der Öffentlichkeit.

Warum ist die Diaspora so ein fruchtbarer Boden für die Entwicklung von Nationalismus?
Wenn wir Diaspora sagen, müssen wir sehr vorsichtig sein. Sowohl im kroatischen als auch im serbischen Fall haben wir mehrere Auswanderungswellen. Wir haben jene, die im 19. Jahrhundert aus Kroatien ausgewandert sind, jene, die vor dem Krieg im 20. Jahrhundert weggegangen sind, die Kroatien 1945 als Kollaborateure des Ustaša-Systems verlassen haben, und jene, die in den 60-er Jahren als Gastarbeiter ins Ausland gegangen sind. Sie alle haben unterschiedliche Beziehungen zu Jugoslawien und zum Nationalismus. Natürlich besteht bei den Angehörigen der Diaspora, die nach 1945 oder nach 1971 weggegangen sind, eine starke Ablehnung Jugoslawiens. Besonders für die Angehörigen der Ustaša-Migration, d.h. für die, die am NDH-Regime beteiligt waren, war Jugoslawien niemals eine Option. Einige von ihnen sind der Ustaša-Ideologie bis heute treu geblieben, und so können Sie in der Diaspora auf Bilder von Ante Pavelić und eine Überhöhung der Ustaša-Bewegung treffen.

Diese Art nationalistischen Verhaltens kommt oft von jungen Leuten. Woher haben sie diese Ideologie und diese Weltsicht?
Ich habe von vielen Seiten gehört, dass die jungen Menschen, die in der Diaspora geboren sind, oft in ihrem Nationalismus extremer sind als ihre Altersgenossen in Kroatien, Serbien und Bosnien-Herzegowina. Die Gründe dafür liegen wahrscheinlich bei den Eltern, die meistens vor dem Krieg in Jugoslawien geflüchtet sind, die vielleicht auch am Krieg teilgenommen haben und dort radikalisiert wurden. Wir alle, die wir hier im Krieg waren und daran auf irgendeine Weise teilgenommen haben, erinnern uns noch an die eine oder andere Periode. Wir erinnern uns an die Erfahrung, dass Kroaten und Serben jahrzehntelang in Frieden gelebt haben, dass wir untereinander geheiratet, miteinander gefeiert und nebeneinander gelebt haben. Aber die jungen Menschen, die nach dem Krieg geboren wurden, kennen nichts anderes. Sie kennen sie nur als Nachbarvölker und aus den Kriegsgeschichten. Heute wird nicht viel über die Zusammenarbeit zwischen Kroaten, Serben und Bosniaken gesprochen, sondern die Jungen hören meistens nur von den Konflikten dieser Nationen. Ein weiterer Grund ist wahrscheinlich die Tatsache selbst, dass der Mensch immer, wenn er fern seiner Heimat ist, das Bedürfnis hat, noch stärker zu betonen, wer ist, d.h. woher er kommt.

Ist diese Situation auch ein Resultat der fehlenden Katharsis in der Politik?
Natürlich haben die politischen Eliten großen Einfluss darauf, dass wir die Vergangenheit mit ganz falschen Augen betrachten. Das Problem ist, dass jetzt Parteien an der Macht sind, die seit den 90-er Jahren da sind, oder ihre Derivate wie die Partei Vučićs, an deren Spitze ein Mann steht, der aktiv am Krieg teilgenommen hat und sich niemals entschuldigt oder eine persönliche Katharsis durchlebt hat und der bestreitet, das Volk 1995 zum Aufstand aufgehetzt zu haben. Wir haben überall Leute, die am Krieg beteiligt waren, aber dass sie ihre Taten bereuen und sich entschuldigen, das haben wir nicht erlebt. Dabei denke ich nicht nur an Politiker. Ich glaube, dass es in unserer heutigen Gesellschaft viele Faktoren gibt, die zur Bildung eines bestimmten Klimas führen, dazu gehören auch die Medien und das Gerichtswesen, das Kriegsverbrechen nicht bestraft, und es sind auch die einfachen Menschen schuld, die manchmal völlig unangemessen reagieren und Mitgefühl für die eigenen Leiden und Opfer suchen, dieses aber der anderen Seite verweigern. Wir sehen, dass es schwer ist, Empathie und eine gleiche Verurteilung aller Verbrechen zu erreichen. Ganz im Gegenteil: Bei uns werden Verbrecher oft zu Nationalhelden. In Kroatien wird Mirko Norac gefeiert und nach Karadžić werden Studentenheime benannt. All das zusammengenommen zeigt uns, dass es nicht nur an den Politikern liegt, sondern zum großen Teil auch am ökonomischen Rückstand, dem schlechten Lebensstandard, der den Menschen keine Perspektive und keine Möglichkeit gewährt, die Vergangenheit hinter sich zu lassen und in die Zukunft zu blicken. Daher kehren sie immer wieder in die Vergangenheit zurück und suchen den Schuldigen an ihrer Situation.

Ist das der Grund, warum historische Kontinuität den Balkanvölkern zu wichtig ist?
Das Bedürfnis nach einer Identität und Kontinuität ist eine legitime Sache. Es ist kein Problem, Dinge zu betonen, die man in der Vergangenheit erreicht hat. Aber ich sehe nicht, dass wir auf positive Dinge zurückblicken. Die Kroaten und Serben leben schon fast 1.500 Jahre in unserer Region. Davon haben sie meiner Betrachtung zufolge im Zweiten Weltkrieg und in den Kriegen der 90-er Jahre aus eigenem Antrieb gegeneinander gekämpft. D.h. insgesamt waren das acht von diesen 1.500 Jahren. Da stellt sich die Frage, was ist mit den übrigen 1492 Jahren? Das sind Jahre, in denen sie gemeinsam Dinge geschaffen, gebaut etc. haben. Statt, dass wir in dieser Kontinuität herausarbeiten, wie viel wir gemeinsam haben, obwohl wir in einigen Dingen unterschiedlich sind, betonen wir in den letzten 30 Jahren hauptsächlich die negativen Beispiele, um unsere Nation möglichst gut und als das größere Opfer darzustellen, was ein ganz falsches Herangehen ist.

„Wir können uns einem Fremden niemals näher fühlen als uns selbst.“

Könnte man das als künstliche Entfremdung von den Nachbarvölkern bezeichnen?
Es ist vielleicht der Versuch davon, aber wenn Sie es sich anschauen, gab es niemals mehr Serben (Touristen und Arbeitskräfte) in Kroatien als in diesem Jahr. Viele junge Menschen, Künstler etc., fahren regelmäßig in das Nachbarland, sehen Serien, Filme… Vielleicht warten einige auf eine Entfremdung, aber wir werden einem Fremden niemals näher sein als uns selber. Selbst in Wien können sich die Serben und Kroaten den Österreichern niemals näher fühlen, als sie einander aufgrund der historischen Erfahrung, der gemeinsamen Sprache und Mentalität nahestehen. Versuche der Entfremdung und der Betonung der negativen Ereignisse aus der Vergangenheit gibt es, aber ich glaube, dass die in der Realität nicht die Oberhand gewinnen können.

Kroate kann nur ein Mensch mit einer bestimmten ideologischen Ausrichtung und katholischem Glauben sein, ein Serbe muss orthodox sein usw….
Da ist auch die Rolle der religiösen Einrichtungen in unserer Region ausschlaggebend. Leider haben die sich in vielen Fällen als negativer Faktor erwiesen. Welcher Unterschied besteht zwischen Kroaten, Serben und Bosniaken? Liegt dieser Unterschied in der Sprache, Mentalität, Rasse oder im Aussehen? Eigentlich gibt es überhaupt keinen Unterschied außer im Glauben, wenn Sie das betonen wollen. Wir können bestimmte Volksgruppen an ihrer Physiognomie oder Mentalität erkennen, aber Kroaten und Serben können wir an gar nichts unterscheiden, und wenn Sie Ausländer sind, nicht einmal an der Sprache. Darum kommen wir zu dem Faktor des Glaubens, der entscheidend sein muss. Die Serbisch-orthodoxe Kirche hat sich in den letzten Jahren eher serbisch als orthodox verhalten und die katholische Kirche in Kroatien eher kroatisch als katholisch. Beide haben sich am wenigsten christlich und wie Kirchen verhalten, die das Evangelium und die Lehre Christi predigen sollen.