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REPORTAGE

Kinderheirat: „Ich habe sie in die Ehe gelockt!“

FOTO: Diva Shukoor

GEWALT. Kinderehen gelten dem Gesetz nach als eine Form von Gewalt, denn die Opfer können sich aufgrund ihres Alters nicht wehren. Der Hintergrund ist Armut in den Randschichten der Gesellschaft, die zu einem Mangel an Bildung und blinder Befolgung von Traditionen führt.

Die Bilder von Mädchen in Hochzeitskleidern mit Buben oder sogar manchmal erwachsenen Männern als Bräutigamen, die die Medien bisweilen veröffentlichen, berühren uns emotional und machen uns sprachlos und wütend. Von Zeit zu Zeit dringen Informationen zu uns, dass eines dieser geopferten Mädchen nach der Hochzeitsnacht oder bei der Geburt gestorben ist. Und wieder spüren wir Mitleid und tiefes Bedauern, und dann vergessen wir es wieder bis zur nächsten Nachricht. Meistens passieren die schlimmsten Bestialitäten in der Ferne, in Nigeria, im Jemen oder der Türkei, und die räumliche Distanz erleichtert das Vergessen. Aber Kinderehen werden auch bei uns geschlossen, im zivilisierten Europa, und in Amerika, der Wiege der Demokratie und der Menschenrechte, sind sie sogar ausgesprochen häufig. Denn durch die Zuwanderung aus fernen Teilen der Welt mit ihren verschiedenen Kulturen kommen auch unerfreuliche Bräuche zu uns, denen die Gesetzgebung entgegenzuwirken versucht. KOSMO bringt Ihnen Bilder früher Ehen in der Roma-Population, die uns am nächsten ist. Aber um Missverständnisse zu vermeiden: Sie ist nicht die von diesem schweren Problem am meisten betroffene Gemeinschaft.

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GEWALT. Kinderehen gelten dem Gesetz nach als eine Form von Gewalt, denn die Opfer können sich aufgrund ihres Alters nicht wehren. Der Hintergrund ist Armut in den Randschichten der Gesellschaft, die zu einem Mangel an Bildung und blinder Befolgung von Traditionen führt.

Ich habe sie in die Ehe gelockt

Milić Petrović (51) ist Sänger und Komponist vieler beliebter Roma-Lieder. Mit seiner Frau Monika ist er schon seit 28 Jahren verheiratet. Sie sind die Eltern von Dalibor und Danijel, die ihnen die Enkel Filip und Leon geschenkt haben. Man könnte sagen, eine ganz normale Familie, wenn ihre Ehe nicht so einen spezifischen Anfang gehabt hätte.
„Meine Monika und ihre Familie kannte ich, weil wir durch familiäre Beziehungen verbunden waren. Denn eine ihrer Tanten ist mit meinem Bruder verheiratet und die andere mit meinem Cousin. Nachdem sie die Schule nach der fünften Klasse abgebrochen hatte, kam sie, um meinem Bruder und der Schwägerin ein bisschen mit ihrem Kind zu helfen. Sie war 15 Jahre alt und ich 23, da habe ich sie zum Spazierengehen eingeladen. Da ich bereits ein reifer und ernsthafter Bursche war, hatte niemand einen Verdacht, dass daraus irgendetwas anderes werden könnte. Nach ein paar Tagen habe ich sie gefragt, ob sie mich heiraten wollte. Sie wollte ihre Eltern fragen, hat aber gleich gesagt, dass sie mit mir davonlaufen würde, wenn sie es ihr nicht erlauben sollten“, erzählt Milić voller Charme.

Als er sah, dass das Mädchen ihn mochte, sagte er, er habe kein Geld für die Reise nach Šabac, aber für das Taxi in seine Wohnung hätte er genug. Sie willigte ein.
„Als ich sie umwarb, erzählte ich ihr, ich hätte drei Zimmer und ein Bad, aber in Wirklichkeit hatten mein Bruder und ich in einer Hütte ohne Hausnummer in Banjica in Belgrad nur je ein Zimmerchen ohne Strom. Ich hatte einen Holzofen, aber ohne Ofenrohr. Als meine Monika das sah, war sie schockiert und warf mir vor, dass ich ihr drei Zimmer versprochen hatte, aber ich sagte: „Mach dir keine Sorgen, das wird schon noch!“ Zum Glück gab uns am nächsten Tag ein Nachbar über ein Kabel Strom und bald hatten wir ein größeres Bett und sogar einen Fernseher und andere wichtige Dinge für unseren kleinen Haushalt“, erinnert sich der sympathische Musiker.

Die Eltern der Braut leisteten keinen Widerstand gegen die allzu frühe Heirat ihrer Tochter, denn sie kannten den Schwiegersohn. Trotz einiger kleiner Tränen verlief ihr erster Besuch sehr gut.
„Monika war eine geschickte Hausfrau. Sie war bescheiden und gut. Nach zwei Jahren bekamen wir unseren ersten Sohn, dann heirateten wir, weil sie volljährig wurde, und bald kam auch der zweite Sohn zur Welt. Es war nicht leicht für uns, auf die Beine zu kommen, aber wir verstanden uns gut, sie hat auf mich gehört und wir hatten niemals größere Probleme. Vor 15 Jahren sind wir nach Wien gekommen, denn wir dachten, dass es hier für die Kinder besser sei. Inzwischen hatten wir ein großes, schönes Haus mit vielen Zimmern und Bädern gebaut. Ich habe es nie bereut, dass ich dieses Mädchen so jung geheiratet habe, denn sie war immer bei mir und kümmerte sich fleißig und gewissenhaft um den Haushalt und die Kinder“, ist Milić Petrović stolz auf seine Frau.

14 Millionen Mädchen werden jedes Jahr vor ihrem 18. Geburtstag verheiratet.
Jedes 3. Mädchen aus den Entwicklungsländern heiratet vor dem 18. Lebensjahr.
Jedes 9. Mädchen aus den Entwicklungsländern heiratet vor dem 15. Lebensjahr, manche sogar schon mit 8 oder 9 Jahren.
Wenn dieser Trend anhält, werden in den kommenden Jahrzehnten 150 Millionen Mädchen vor ihrem 18. Geburtstag verheiratet werden.

Ich habe auf Kinderhochzeiten gesungen
Milić Petrović tritt häufig bei Roma-Feiern in ganz Europa auf, aber er sagt, dass er zwei Hochzeiten, eine in Holland und eine in Wien, nie vergessen wird. In beiden Fällen wurden Kinder verheiratet. „Bei einer großen Feier in Rotterdam stammte die Familie der Braut aus Holland und die des Bräutigams aus der Schweiz. Das Hochzeitspaar, das Mädchen elf Jahre alt und der Bursche zwölf, verstanden gar nicht, was um sie herum passierte. Einmal, als wir beim Spielen eine Pause machten, lief der Bräutigam hinaus auf die Wiese vor dem Restaurant, rollte die Hose von seinem festlichen Anzug hoch und begann, mit den Kindern Fußball zu spielen, während seine Krawatte um ihn herumflatterte. Die Braut blieb ruhig und folgsam sitzen, obwohl wahrscheinlich auch sie gerne gespielt hätte. Am Abend führten sie die beiden Kinder in ein Zimmer, und als sie nach einiger Zeit zurückkehrten, hieß es, dass die Braut in Ordnung gewesen sei, und dann begann die Party erst richtig. Da wurden Teller zerschmissen, wir Musiker bekamen viel Geld vom Vater des Bräutigams, denn die Tochter hatte seinen Ruf gewahrt. Bevor verlautbart wurde, dass sie noch unberührt war, hatte er wie halbtot dagesessen, denn es ging um viel Geld, ca. 100.000 Schweizer Franken plus die Kosten der Hochzeitsfeier.

TRAURIG: „Als wir beim Spielen eine Pause machten, ging der Bräutigam hinaus, rollte die Hosen seines festlichen Anzugs hoch, begann, mit den Buben Fußball zu spielen, und die Krawatte flatterte ihm um den Hals“, sagt Milić P. (FOTO: Diva Shukoor)

Auf Hochzeiten, bei denen es um viel Geld geht, ist nach Milić Petrovićs Worten immer ein Roma-Gericht in Bereitschaft, dass zusammentritt, wenn das Mädchen „nicht in Ordnung ist“. In der Regel muss der Vater der Braut das Geld, das er bekommen hat, zurückgeben und die doppelte Summe für die Hochzeitskosten zahlen. Wenn das Mädchen aus einer guten und bekannten Familie stammt, weiß der Vater des Bräutigams, dass sie dieses Geld mit den Tätigkeiten, denen sie nachgeht, bald wieder einbringen wird.

„Ich habe auch auf einer Hochzeit in Wien gesungen, wo die Brautleute beide 15 Jahre alt waren, und als sie am Nachmittag nach Vollzug der Ehe in den Saal zurückkehrten, war uns allen klar, dass es Probleme gab. Das Gericht trat direkt vor Ort zusammen und die Rückgabe des Geldes und die Zahlung der Kosten wurden beschlossen. Es sind auch quälende Situationen, wenn der Ehemann wegen seines Alters nicht in der Lage ist, seine eheliche Pflicht zu tun. Dann muss man manchmal sogar ein paar Tage warten“, erzählt unser Gesprächspartner von ihren Bräuchen.

Beängstigend

5-mal höher ist die Wahrscheinlichkeit, dass ein Mädchen von 15 Jahren bei einer Geburt stirbt, als dass das einer Frau in den Zwanzigern geschieht.

2-mal höher ist die Wahrscheinlichkeit, dass ein Kind, das von einer Minderjährigen geboren wird, vor seinem ersten Geburtstag stirbt, als das bei dem Kind einer Zwanzigjährigen der Fall ist.

Im nächsten Teil unserer Serie berichten wir euch von weiteren Schicksalen aus unserer Community…

Vera Marjnaovic
Meine Berufung zur Journalistin entdeckte ich bereits als Sechzehnjährige während meiner Gymnasialzeit in Montenegro. Diesem Berufszweig bin ich seither treu geblieben. Nach meiner Ankunft in Wien widmete ich mich der Arbeit mit Mitgliedern der BKS-Gemeinschaft, wodurch ich tiefgreifende Einblicke in die Lebensgeschichten und sowohl die Triumphe als auch die Herausforderungen verschiedener Generationen gewann. Diese vielfältige Palette an Persönlichkeiten prägte meinen journalistischen Weg und festigte mein Engagement für soziale Themen.