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REPORTAGE

Kinderehen: „Heirate erst, wenn du bereit bist!“

FOTO: zVg./iStockphoto

GEWALT. Kinderehen gelten dem Gesetz nach als eine Form von Gewalt, denn die Opfer können sich aufgrund ihres Alters nicht wehren. Der Hintergrund ist Armut in den Randschichten der Gesellschaft, die zu einem Mangel an Bildung und blinder Befolgung von Traditionen führt.

Die Bilder von Mädchen in Hochzeitskleidern mit Buben oder sogar manchmal erwachsenen Männern als Bräutigamen, die die Medien bisweilen veröffentlichen, berühren uns emotional und machen uns sprachlos und wütend. Von Zeit zu Zeit dringen Informationen zu uns, dass eines dieser geopferten Mädchen nach der Hochzeitsnacht oder bei der Geburt gestorben ist. Und wieder spüren wir Mitleid und tiefes Bedauern, und dann vergessen wir es wieder bis zur nächsten Nachricht.

Meistens passieren die schlimmsten Bestialitäten in der Ferne, in Nigeria, im Jemen oder der Türkei, und die räumliche Distanz erleichtert das Vergessen. Aber Kinderehen werden auch bei uns geschlossen, im zivilisierten Europa, und in Amerika, der Wiege der Demokratie und der Menschenrechte, sind sie sogar ausgesprochen häufig. Denn durch die Zuwanderung aus fernen Teilen der Welt mit ihren verschiedenen Kulturen kommen auch unerfreuliche Bräuche zu uns, denen die Gesetzgebung entgegenzuwirken versucht. KOSMO bringt Ihnen Bilder früher Ehen in der Roma-Population, die uns am nächsten ist. Aber um Missverständnisse zu vermeiden: Sie ist nicht die von diesem schweren Problem am meisten betroffene Gemeinschaft.

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GEWALT. Kinderehen gelten dem Gesetz nach als eine Form von Gewalt, denn die Opfer können sich aufgrund ihres Alters nicht wehren. Der Hintergrund ist Armut in den Randschichten der Gesellschaft, die zu einem Mangel an Bildung und blinder Befolgung von Traditionen führt.

Sonja Barbul (49) ist eine äußerst selbstbewusste und gebildete Romni. Sie ist in Paris aufgewachsen, hat in England studiert und in Italien gelebt. Heute findet ihr Leben zwischen Kovin und Wien statt. Sie ist Übersetzerin von Beruf und ihre Organisation „Papusza“ beteiligt sich an dem Projekt „Udaj se kad si spremna“ („Heirate, wenn du bereit bist“) gegen die frühen Ehen bei den Roma. Unter der Schirmherrschaft der Europäischen Kommission bzw. des Daphne Fonds, der für Frauen bereitsteht, haben Organisationen aus Italien, Kroatien, Österreich, Rumänien und Bulgarien sowie auch Frauen aus unserer Region die frühen Ehen und ihre Folgen untersucht und ihre Erfahrungen ausgetauscht.

„Das Ziel des Projekts war es, Aufmerksamkeit auf dieses Thema zu lenken, denn die Situation ist sehr schwierig. Es ist schwer, die Menschen zu erreichen und zu motivieren, darüber zu sprechen. Die älteren Generationen sind offener, denn unabhängig von der ethnischen oder religiösen Zugehörigkeit ist bei den frühen Ehen auch Gewalt im Spiel“, führt uns Sonja Barbul in das Thema ein. Das erwähnte Projekt macht auch Werbung für die Istanbul-Konvention, die die Europäische Kommission im Laufe des Projekts unterschrieben hat und die sich für eine Beendigung der Gewalt gegen Frauen einsetzt. Der Europarat hat die Gruppe Grevio gegründet, die die Istanbul-Konvention überwacht und implementiert.

14 Millionen Mädchen werden jedes Jahr vor ihrem 18. Geburtstag verheiratet.

Jedes 3. Mädchen aus den Entwicklungsländern heiratet vor dem 18. Lebensjahr.

Jedes 9. Mädchen aus den Entwicklungsländern heiratet vor dem 15. Lebensjahr, manche sogar schon mit 8 oder 9 Jahren.

Wenn dieser Trend anhält, werden in den kommenden Jahrzehnten 150 Millionen Mädchen vor ihrem 18. Geburtstag verheiratet werden.

„Unter den ersten Ländern, die mit der Kontrolle begonnen haben, waren Österreich und Monako. Von 2014 bis zum Dezember 2016 wurden in Österreich sieben Fälle von Gewalt in Form von erzwungenen Kinderheiraten verzeichnet. Für diese Taten wurde die Schuldigen zu Haftstrafen zwischen fünf Monaten und drei Jahren verurteilt, was jetzt in anderen Ländern als Beispiel dient. Österreich liegt bei der Rechtsstaatlichkeit ganz vorne. Aber damit eine Kinderehe wie ein Gewaltverbrechen behandelt wird, muss jemand Anzeige erstatten. Die meisten Mädchen empfinden die frühen Ehen nicht als Gewalt, denn sie haben von klein auf gelernt, dass sie heiraten müssen, und sie halten das für normal. Ihnen wird gesagt, dass sie ein schönes Zuhause haben werden, dass sie gut leben und Schmuck und moderne Kleidung haben werden, denn Bildung interessiert niemanden“, betont Frau Barbul.

Während der anderthalbjährigen intensiven Arbeit hat das Projekt die Öffentlichkeit aufgerüttelt. Im EU-Parlament in Straßburg wurde ein rotes Büchlein vorgestellt, in dem die Resultate der Untersuchungen aus allen teilnehmenden Ländern zusammengefasst sind. Leider zeigen sie, dass die Situation in allen Roma-Gemeinschaften gleich ist, und die Botschaft ist dieselbe: Man muss an der Bildung arbeiten!

WICHTIG: „Wir können die frühen Ehen nicht verhindern,
wir können diese Tradition bei den Roma nicht ausrotten,
aber durch Bildung können wir in den Frauen Selbstbewusstsein wecken“,
sagt Sonja B.

„Wenn eine Frau in Österreich, die 20 Jahre alt ist, ein Kind in der ersten Klasse hat, nicht Deutsch spricht und ihm bei den Hausaufgaben nicht helfen kann, welche Perspektive haben dann sie und das Kind? Wir können die frühen Ehen nicht verhindern, wir können diese Tradition bei den Roma nicht ausrotten, aber durch Bildung können wir bei Frauen Selbstbewusstsein wecken, damit wenigstens die häusliche Gewalt endet und vermieden wird. Dass wir uns richtig verstehen: Die frühen Ehen sind ein großes Geschäft. Wichtig ist nur das wirtschaftliche Moment und in Rumänien und Italien ist es am schlimmsten, denn für eine Jungfrau, die gut stehlen kann, zahlen die Eltern des Bräutigams bis zu 150.000 Euro. Das sind Mädchen zwischen zehn und zwölf Jahren, die von 13 und 14 Jahren sind schon zu alt. Wenn ein Mädchen keine Jungfrau mehr ist, erntet ihre Familie Kritik und wird ausgeschlossen und muss auch das investierte Geld zurückzahlen“, ist die beängstigende Wahrheit.

Nach den Worten Sonja Barbuls haben ihre Untersuchungen gezeigt, dass es auch in Wien Fälle gibt, in denen Mädchen mit 14 Jahren oder noch jünger verheiratet wurden und mit 15 bereits Mutter waren. In die Schule gehen diese Minderjährigen normalerweise, solange die Schwangerschaft noch nicht sichtbar ist, dann folgt das Jugendamt. Auf die Frage, warum die sozialen Institutionen das nicht verhindern, sagt sie:

„Die frühen Ehen sind eine Tradition der Roma und das Jugendamt ist da machtlos. Das Mädchen hat eine ärztliche Bestätigung und sagt, dass es zwar weiß, dass es einen Fehler begangen hat, dass es aber nicht abtreiben will, sondern dass es mit dem Burschen zusammenleben möchte, der ebenfalls noch minderjährig ist. Ihr Vater sei sehr wütend, weil sie ihm Schande gemacht habe und wegen der Liebe davongelaufen sei, und darum könne sie nicht nach Hause zurückkehren, denn sie fürchte Schläge und Misshandlungen. Und dann kommt die Familie des Bräutigams, fein und human, nimmt sie auf und gewährt ihr Schutz. Die staatlichen Institutionen unterstützen sie bei der Miete und anderen Kosten, sie erhält Familienbeihilfe und jede andere Hilfe, die einer alleinerziehenden Mutter zusteht. Also gebärt das allzu junge Mädchen nicht nur Enkel, sondern bringt auch das Geld vom Staat mit in den Haushalt. Ich betone, dass dies vom Gesetz über alleinerziehende Eltern her erlaubt ist, das Gesetz ist für alle gleich. Das Problem ist, dass nach der Geburt des Kindes niemand mehr sagt, das Mädchen solle die Schule fertigmachen, obwohl es in Österreich Ausbildungsprogramme auch für Altersgruppen gibt, die der Schule entwachsen sind (lebenslanges Lernen).

Zwischen 2014 und 2016 wurden in Österreich sieben Fälle
von erzwungenen Kinderheiraten verzeichnet.

Österreich: STOPP für Kinderehen!
Im Bemühen, Kinderehen in Österreich zu verhindern, hat die Bundesfamilienministerin Dr. Sophie Karmasin ein Gesetz angekündigt, mit dem ein Eheschließungsverbot bis zum abgeschlossenen 18. Lebensjahr eingeführt werden soll. Obwohl seit Anfang 2016 ein Gesetz in Kraft ist, nach dem jede Zwangsverheiratung streng bestraft wird, gilt in Österreich noch immer das Eherecht des Herkunftslandes eines Ehepaares, sodass Ehen, die im Ausland geschlossen wurden, voll gültig sind, sofern kein Ehepartner unter 14 Jahren alt ist. Nach den Worten der Ministerin müssen Kinder- und Zwangsehen verhindert werden, und Österreich hat schon viele Schritte in diese Richtung unternommen.

„Zwangs- und Kinderehen werden in Parallelgesellschaften geschlossen und entsprechen in keiner Weise unserem Bild von den Werten und Grundlagen unserer Gesellschaft“, betonte Karmasin. Sie unterstrich, dass mit der Verabschiedung des neuen Gesetzes alle Ehen unterhalb der zulässigen Altersgrenze annulliert werden.
Obwohl in Österreich eine Eheschließung mit dem vollendeten 18. Lebensjahr möglich ist, ist es auch erlaubt, dass ein Partner mit Zustimmung seiner Eltern die Ehe schon mit 16 Jahren schließt, sofern der andere über 18 ist.

Das Gesetz, das die Ministerin angekündigt hat, wird den Bereich der Zwangs- und Kinderehen rechtlich regeln, aber es gibt keine Sicherheit, dass das in der Praxis viel verändern wird. Denn gerade aufgrund dieser gesetzlichen Barrieren beginnt eine Ehe zwischen Kindern nicht mit einer Heirat, sondern alles beschränkt sich auf eine Feier und eine finanzielle Transaktion zwischen den Eltern. Vor den Standesbeamten tritt das Paar meistens erst Jahre später, denn die Minderjährige genießt als alleinerziehende Mutter zahlreiche Sozialleistungen. Es ist Sache des Staates, diesen inhumanen und illegalen Betrug mithilfe seiner Mechanismen zu stoppen.

Beängstigend
5-mal höher ist die Wahrscheinlichkeit, dass ein Mädchen von 15 Jahren bei einer Geburt stirbt, als dass das einer Frau in den Zwanzigern geschieht.
2-mal höher ist die Wahrscheinlichkeit, dass ein Kind, das von einer Minderjährigen geboren wird, vor seinem ersten Geburtstag stirbt, als das bei dem Kind einer Zwanzigjährigen der Fall ist.

So ist es in Amerika:

  • Im größeren Teil Amerikas sind Heiraten vor dem 18. Lebensjahr nicht erlaubt, aber jeder Bundesstaat hat seine Ausnahmen, wenn die Eltern ihr Einverständnis geben oder wenn es zu einer Schwangerschaft kommt.
  • Nach Angaben der Gruppe Unchained at Last wurden zwischen 2000 und 2015 in den USA über 207.000 Mädchen und Buben verheiratet.
  • Zwei neunjährige Mädchen heirateten Männer von über 30 Jahren und ein Bub heiratete mit 11 Jahren eine 27-jährige Frau.
  • Unter den Minderjährigen sind es vor allem Mädchen von 12 bis 13 Jahren, die Männer von über 30 Jahren geheiratet haben.
  • Unter der Gesamtzahl an Kinderheiraten waren über 80 % Mädchen mit weniger als 15 Jahren.
  • Nur zehn amerikanische Staaten haben es abgelehnt, Daten über Ehen von Minderjährigen herauszugeben.