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REPORTAGE

Kinder-Zwangsheirat als großes Geschäft!

FOTO: iStockphoto

GEWALT. Kinderehen gelten dem Gesetz nach als eine Form von Gewalt, denn die Opfer können sich aufgrund ihres Alters nicht wehren. Der Hintergrund ist Armut in den Randschichten der Gesellschaft, die zu einem Mangel an Bildung und blinder Befolgung von Traditionen führt.

Die Bilder von Mädchen in Hochzeitskleidern mit Buben oder sogar manchmal erwachsenen Männern als Bräutigamen, die die Medien bisweilen veröffentlichen, berühren uns emotional und machen uns sprachlos und wütend. Von Zeit zu Zeit dringen Informationen zu uns, dass eines dieser geopferten Mädchen nach der Hochzeitsnacht oder bei der Geburt gestorben ist. Und wieder spüren wir Mitleid und tiefes Bedauern, und dann vergessen wir es wieder bis zur nächsten Nachricht.

GEWALT. Sie beginnt normalerweise, wenn das Mädchen zur Frau wird.

Meistens passieren die schlimmsten Bestialitäten in der Ferne, in Nigeria, im Jemen oder der Türkei, und die räumliche Distanz erleichtert das Vergessen. Aber Kinderehen werden auch bei uns geschlossen, im zivilisierten Europa, und in Amerika, der Wiege der Demokratie und der Menschenrechte, sind sie sogar ausgesprochen häufig. Denn durch die Zuwanderung aus fernen Teilen der Welt mit ihren verschiedenen Kulturen kommen auch unerfreuliche Bräuche zu uns, denen die Gesetzgebung entgegenzuwirken versucht. KOSMO bringt Ihnen Bilder früher Ehen in der Roma-Population, die uns am nächsten ist. Aber um Missverständnisse zu vermeiden: Sie ist nicht die von diesem schweren Problem am meisten betroffene Gemeinschaft.

LESEN SIE AUCH: „Nie mehr wird mich jemand misshandeln!“

  

SIE GING DURCH DIE HÖLLE. Sie ist eine freundliche und sanfte Frau, verschlossen und vorsichtig, denn auf ihren Schultern lasten allzu schwere Erinnerungen. Sie wurde weder vom Leben noch von denjenigen gut behandelt, von denen man das normalerweise erwarten sollte.

 

 

Sie haben mich verkauft
Kein Lächeln dringt auf Leonarda R.s (36) Gesicht, als sie beginnt, über ihre Kindheit in Italien zu erzählen, wo sie auch geboren wurde. Sie wuchs in einer improvisierten Roma-Siedlung auf, in einer Gemeinschaft, in der die Hierarchie klar definiert war. Die Männer entscheiden über alles, auch über das Schicksal ihrer Töchter.

„In meiner Familie wurden alle Mädchen außer einer Schwester meiner Mutter, die krank war und später in meinem Leben sehr wichtig wurde, im Kindesalter verheiratet. Niemand fand etwas dabei, es war selbstverständlich. Ich machte mir keine Sorgen, als meine Mutter mir sagte, dass jetzt die Reihe an mir war, obwohl es mir Leid tat, dass die Heirat den Kinderspielen zwischen den Wohnwägen in unserer Siedlung ein Ende bereiten würde. Der ausgewählte Partner war ein Bub von 14 Jahren aus einer anderen Stadt, aus einer Gemeinschaft, in der es bereits Frauen aus unserer Familie gab. Das Hochzeitskleid zogen sie mir direkt vor meinem 12. Geburtstag an. Es gab eine große Feier mit vielen Speisen und Getränken, mit Musik und Tanz. Mein Vater erhielt von meinem Schwiegervater Geld im Wert von 60.000 heutigen Euro bar auf die Hand“, erinnert sich Leonarda an die Details.

14 Millionen Mädchen werden jedes Jahr vor ihrem 18. Geburtstag verheiratet.

Jedes 3. Mädchen aus den Entwicklungsländern heiratet vor dem 18. Lebensjahr.

Jedes 9. Mädchen aus den Entwicklungsländern heiratet vor dem 15. Lebensjahr, manche sogar schon mit 8 oder 9 Jahren.

Wenn dieser Trend anhält, werden in den kommenden Jahrzehnten 150 Millionen Mädchen vor ihrem 18. Geburtstag verheiratet werden.

Das Kind wurde an eine große Familie übergeben, in der ihr die Schwiegermutter, selbst noch eine sehr junge Frau, aufzählte, welche Pflichten sie im Haus haben würde. Der Schwiegervater erklärte ihr, dass sie mit Betteln und Stehlen auch Geld verdienen müsse.

„Man erwartete, dass ich eine Frau und eine gehorsame Schwiegertochter sein würde, aber ich war noch ein Kind. Die Schwiegermutter schrie mich an, wenn ich etwas schlecht machte, und es fielen auch im Vorübergehen Backpfeifen. Über die Beziehung zu meinem Mann will ich nicht reden, denn auch er war noch ein Bub, er wusste nicht, was vor sich ging. Wir gingen gemeinsam „arbeiten“, denn er hatte bereits Erfahrung im Stehlen. Er zeigte mir, wie ich weglaufen sollte, wenn ich etwas gestohlen hatte, wie ich bettelte, aber ich erwies mich nicht als gute Schülerin. Abends, wenn wir dem Schwiegervater die Tageskasse übergaben, folgte erst Kritik, später auch Schläge. Sie erwarteten, dass ich das Geld, das mein Vater bekommen hatte, möglichst schnell wieder einbrachte“, erzählt die junge Frau gequält.

Eine neue Belastung fiel um ihren 13. Geburtstag herum auf die Schultern des Mädchens, als ihr die Schwiegermutter erklärte, dass ihre Übelkeit von einer Schwangerschaft herrührte. Und sie täuschte sich, als sie hoffte, dass sie wegen dieser neuen Umstände nicht mehr täglich auf die Straße gehen müsste.

„Eines Tages brach ich auf der Straße zusammen, blutete stark und Passanten riefen die Rettung. Sie fuhren mich in ein Krankenhaus, wo ich das Kind verlor und tagelang zwischen Leben und Tod schwebte. Als ich mich erholt hatte, haben mich meine Eltern von dort abgeholt, denn meine Schwiegermutter und mein Schwiegervater wollten mich nicht mehr in ihrem Haus.“ Über das Ende dieses Kapitels spricht Leonarda ohne Bitterkeit und fügt hinzu, dass zwischen den beiden Familien eine Vereinbarung über das Geld erzielt wurde.

Beängstigend

5-mal höher ist die Wahrscheinlichkeit, dass ein Mädchen von 15 Jahren bei einer Geburt stirbt,
als dass das einer Frau in den Zwanzigern geschieht.

2-mal höher ist die Wahrscheinlichkeit, dass ein Kind,
das von einer Minderjährigen geboren wird, vor seinem ersten Geburtstag stirbt, als das bei dem Kind einer Zwanzigjährigen der Fall ist.

Die Ausreise zur Schwester der Mutter nach Wien war die Rettung für das Mädchen. Sie absolvierte als Externistin ihren Pflichtschulabschluss, fand Arbeit und machte schließlich über das AMS noch eine Ausbildung. Heute ist Leonarda glücklich verheiratet und Mutter zweier Söhne. In die Vergangenheit kehrt sie nur selten zurück.

„Mein Vater hat mir erlaubt zu gehen, denn er wusste, dass er mich nicht noch einmal so würde verheiraten können wie beim ersten Mal, als er so viel Geld für mich bekommen hatte. Für alles, was ich heute habe, bin ich meiner Tante dankbar. Meinen Mann habe ich in der Arbeit kennengelernt. Er ist Österreicher, aber es hat ihn nicht gestört, dass ich eine Roma bin. Er hat geweint, als ich ihm meine Lebensgeschichte erzählt habe, obwohl ich nicht ins Detail gegangen bin. Ich werde sie auch meinen Kindern nicht erzählen. Ich bin nie wieder nach Italien zurückgekehrt und habe auch keinen engen Kontakt zu meiner Familie. Das ist nicht mehr meine Welt und das wird es auch nie wieder sein, solange diese unselige Tradition dort nicht beendet wird, die Kinder für ihr ganzes Leben unglücklich macht“, lautet der Schlussstrich unter der Geschichte dieser glücklichen Frau.

Im nächsten Teil unserer Serie berichten wir euch von weiteren Schicksalen aus unserer Community…

Vera Marjnaovic
Meine Berufung zur Journalistin entdeckte ich bereits als Sechzehnjährige während meiner Gymnasialzeit in Montenegro. Diesem Berufszweig bin ich seither treu geblieben. Nach meiner Ankunft in Wien widmete ich mich der Arbeit mit Mitgliedern der BKS-Gemeinschaft, wodurch ich tiefgreifende Einblicke in die Lebensgeschichten und sowohl die Triumphe als auch die Herausforderungen verschiedener Generationen gewann. Diese vielfältige Palette an Persönlichkeiten prägte meinen journalistischen Weg und festigte mein Engagement für soziale Themen.