Start News Chronik
ANGST UM ANONYMITÄTSVERLUST

Vergewaltigungen im Balkankrieg: Serbien verwehrt Opfern Entschädigung

(FOTO: iStockphoto)

Das serbische Gericht verwehrt bisher Opfern von sexueller Gewalt während des Balkankrieges eine Entschädigung. In fast allen Urteilen gehen die Betroffenen leer aus.

Als Opfer sexueller Gewalt während des Balkankrieges muss man vor das Zivilgericht ziehen, wenn man einen Schadenersatz beanspruchen will. Doch das würde gleichzeitig bedeuten, dass sie ihre Anonymität aufgeben müssen. Ein Vergewaltigungsopfer, das in einem solchen Kriegsverbrechen-Prozess in Serbien aussagen musste, verzichtete sogar auf ihr Schadensersatzrecht, weil sie befürchtete, ihre Anonymität zu verlieren, wenn sie eine Zivilklage einreicht.

„Ich schämte mich für mich selbst, ich schämte mich so sehr, ich schäme mich immer noch, darüber zu sprechen, und diese Situation erlaubte es mir auch nicht, solange bis es anfing, mich zu verfolgen und ich begann im Schlaf zu schreien und zu reden. Also musste ich schließlich darüber sprechen, ich konnte es nicht mehr länger für mich behalten.“

Dies sagte eine Frau zur Abteilung für Kriegsverbrechen des Obersten Gerichtshofs in Belgrad, als sie als geschützte Zeugin beim Prozess gegen den ehemaligen Soldaten der bosnisch-serbischen Armee, Dalibor Maksimović, aussagte. Nachdem Maksimović im Mai 1992 in der Nähe von Bratunac in Ostbosnien vier Männer getötet hatte, hielt er die Frau fast zwei Tage lang gefangen und vergewaltigte sie mehrmals.

Im September 2019, drei Jahre nachdem die Frau ausgesagt hatte, wurde Maksimović nach einem erstinstanzlichen Urteil wegen Mordes, falscher Inhaftierung und Vergewaltigung bosniakischer Zivilisten verurteilt und zu 15 Jahren Gefängnis verurteilt. Er soll gemeinsam mit einem anderen Soldaten der bosnisch-serbischen Armee am 9. Mai 1992 während des Krieges in Bosnien und Herzegowina drei Männer aus einer Gruppe gefangener bosniakischer Zivilisten ausgewählt und erschossen haben. Einer von ihnen zeigte immer noch Lebenszeichen, also schnitt Maksimović ihm mit einem Messer die Kehle durch.

Am selben Tag tötete er einen anderen Bosniaken. Dann befahl er in Begleitung eines anderen, nicht identifizierten Mitglieds der bosnisch-serbischen Armee zwei Frauen – ihnen wurden im Prozess die Codenamen VS1 und VS2 gegeben, um ihre Identität zu schützen – in ihr Fahrzeug einzusteigen.

Sie brachten die Frauen in einen Wald in der Nähe von Bratunac, wo der nicht identifizierte Soldat VS2 vergewaltigte. Maksimović vergewaltigte VS1 und brachte sie dann zu seinem nicht weit entfernten Haus, wo er sie nachts erneut vergewaltigte und sie am Morgen zu einer nahe gelegenen Bushaltestelle gehen ließ.

Als VS1 im September 2016 vor Gericht erschien, sagte sie, sie wolle den Angeklagten nicht von Angesicht zu Angesicht sehen, und das Gericht erlaubte ihr, aus einem separaten Raum auszusagen. Bevor sie aussagte, sagte der zuständige Sachverständige Dr. Branko Mandić über die Zeugin aus, dass sie an einer chronischen Form von posttraumatischer Belastungsstörung, Angstzuständen und Depressionen leide.

„Ich bat jemanden, mich zu töten, um nicht mehr mit dieser Schande leben zu müssen.”

Das sagte die vergewaltigte VS1 über das Gefühl aus, das sie nach dem sexuellen Übergriff empfand.

VS1 beschrieb während des Prozesses, wie sie sich am Tag nach ihrer Vergewaltigung fühlte und sagte dem Gericht: „Ich bat jemanden, mich zu töten, um nicht mehr mit dieser Schande leben zu müssen.”

Sie wurde vom Richter gefragt, wie hoch die Entschädigungszahlung sei, die sie für das, was sie durchgemacht hatte, verlangen würde. Ihre Antwort: „Nun, euer Ehren, ich verlange, was auch immer in solchen Fällen normal ist, falls es so etwas wie ‚normal‘ überhaupt gibt. Mein Leben wurde ruiniert und Sie müssen wissen, wie viel das wert ist.“

Das Gericht sprach ihr letztendlich überhaupt keine Entschädigungszahlung zu. Im erstinstanzlichen Urteil wurde ihr gesagt, sie solle stattdessen eine Zivilklage auf Schadensersatz einreichen. Die Anwältin der Frau, Marina Klajić, sagte, dass während des Prozesses eine Klage erhoben wurde, „aber das Gericht weigerte sich, darüber überhaupt zu diskutieren.“

Bisher haben serbische Gerichte Opfern in Kriegsverbrechensfällen keine Entschädigung gewährt. Die in Belgrad ansässige NGO des „Humanitarian Law Center“ veröffentlichte dazu im letzten Jahr ein Dokument mit dem Titel: „Verfolgung von Verbrechen sexueller Gewalt während bewaffneter Konflikte vor den Gerichten der Republik Serbien“.

Darin wurden Behauptungen aufgeführt, wonach seit Beginn des Krieges in Bosnien und Herzegowina 1992 bis 1993 zwischen 12.000 und 70.000 Frauen vergewaltigt worden sein sollen. Die serbische Staatsanwaltschaft für Kriegsverbrechen hat jedoch nur etwa ein Dutzend Fälle sexueller Gewalt in Konflikten verfolgt.

Beim Internationalen Strafgerichtshof für das ehemalige Jugoslawien wurde fast die Hälfte der Angeklagten, die vor Gericht gestellt wurden, unter anderem der sexuellen Gewalt als Kriegsverbrechen beschuldigt. Im Gegensatz dazu habe es in Serbien jedoch bis zum Jahr 2017 nur zwei endgültige Schuldsprüche wegen Vergewaltigung als Kriegsverbrechen gegeben (Bijeljina und Lekaj), berichtet die damalige Rechtsprogrammdirektorin des „Humanitarian Law Center“, Milica Kostić.

„Angesichts der Verbreitung sexueller Gewalt während der Kriege im ehemaligen Jugoslawien muss man davon ausgehen, dass die Staatsanwaltschaft für Kriegsverbrechen diese Handlungen fast schon ignoriert hat“, so Kostić. Stattdessen würde man die Opfer zu einem Zivilprozess drängen, um Schadensersatz einzufordern. Dies würde jedoch bedeuten, dass die Opfer ihre Anonymität verlieren würden, da sie unter ihrem vollständigen Vor- und Nachnamen als Kläger in einem Zivilverfahren auftreten müssten.

Die Erinnerung an sexuelle Gewalt ist „traumatisch für die Opfer“
Auch im Fall der Zeugin im Prozess gegenden ehemaligen Soldaten der bosnisch-serbischen Armee, Dalibor Maksimović, wurde das Vergewaltigungsopfer VS1 vom Serbischen Gericht aufgefordert, eine Zivilklage auf Schadensersatz einzureichen. Damit wäre sie nicht nur gezwungen gewesen in einem neuen Gerichtsverfahren erneut auszusagen, was mit ihr geschehen war, sondern auch ihre Identität preiszugeben.

Sie wäre dann nämlich nach dem serbischen Zivilprozessgesetz eine Schadensersatzklägerin und hätte nicht unter einem Pseudonym vor Gericht erscheinen können. Aus diesem Grund hat VS1 beschlossen, keinen Schadensersatzanspruch geltend zu machen.

„Über die sexuelle Gewalt zu sprechen, die Opfer erlitten haben, ist für sie äußerst traumatisch“, sagte Marina Kljajić, eine Anwältin, die Opfer in mehreren Fällen von Kriegsverbrechen am Obersten Gerichtshof in Belgrad vertrat, gegenüber BIRN.

Denn wenn diese über die schmerzhaften Erfahrungen in der Vergangenheit sprechen müssen, tritt häufig eine Retraumatisierung auf. „Wenn über eine solche Erfahrung erneut gesprochen wird, haben die Opfer das Gefühl, dass sie sie erneut durchlaufen“, erläuterte  Biljana Slavković, die als Therapeutin mit weiblichen Opfern verschiedener Arten von Gewalt, einschließlich sexueller Gewalt in Konflikten, arbeitet.

Oberstes serbisches Gericht hebt Achtung der Rechte von Opfern hervor
Das oberste Gericht in Serbien hat im Oktober 2019 Leitlinien zur Verbesserung der Gerichtsverfahren bei der Frage der Entschädigung von Opfern schwerer Straftaten veröffentlicht. In den Leitlinien wurde betont, dass die Gerichte im Rahmen eines Gerichtsverfahrens Opfern schwerer Straftaten Schadensersatz gewähren müssen.

Quellen und Links: