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REPORTAGE

„Ich dachte, ich würde nicht lebend aus seinem Würgegriff entkommen“

„Mein Mann ist verrückt geworden!“

Sofija R. (56)

„Als Corona begann, habe ich weiter gearbeitet, denn ich bin in einem Supermarkt beschäftigt und mein Mann ist in Pension. Mit 66 Jahren und Diabetes gehört er zur Risikogruppe und ist daher von Anfang an zu Hause geblieben. Wir leben alleine, denn unser Sohn und unsere Tochter haben eigene Familien. Mein Alltag hat sich durch diese Maßnahmen wegen der Arbeit nur wenig verändert, außer dass ich aufpasse, dass ich mir nicht irgendwo das Virus einfange. Doch da gibt es keine Sicherheit. Aber zu Hause ist Chaos! Mein Mann hat anfangs gesagt, dass er die Isolation nicht schlimm findet, dass er diese paar Tage leicht aushalten kann, aber als er sah, dass dieser Zustand länger anhalten würde, begann er zu nörgeln und dann ernsthaft mit mir zu streiten. Er benimmt sich, als sei ich schuld, dass die Regierung diese Ausgangssperren eingeführt hat, dass die Chinesen Fledermäuse gegessen und die Welt infiziert haben und dass Tennisturniere abgesagt wurden, sodass er Đoković nicht sehen kann.

Zuerst habe ich Entschuldigungen für ihn gesucht, denn er ist es gewöhnt, aktiv zu sein: Er fährt jeden Tag an der Donau Fahrrad, spielt Schach mit seinen Freunden, betreut die Enkelkinder – er hat sich seine Pensionistentage wirklich gut eingerichtet. Aber in letzter Zeit ist er unerträglich geworden. Ich sehe, dass er seine schlechte Laune jeden Tag mit Šljivovica bekämpft, aber das macht ihn aggressiv. Vor ein paar Tagen habe ich ihn gebeten, etwas zum Abendessen zu kochen, denn ich komme immer sehr müde heim, aber das hat er nicht getan. Am Abend habe ich ihn dann ganz ruhig gefragt, was wir jetzt essen würden, und er packte mich wütend am Hals und begann, mich wie eine Fetzenpuppe zu schütteln. Er beleidigte mich, verfluchte den Tag, an dem er mich kennengelernt hat, das Schicksal, das uns zusammengeführt hat, die Mutter, die mich geboren hat, und die Sonne, die mich wärmt. Ich will nicht sagen, dass wir in den 35 Jahren unserer Ehe nie gestritten haben, aber körperliche Gewalt und Flüche gab es nie. Seine blutunterlaufenen Augen und der Alkoholgeruch haben mir Angst gemacht, er hatte unmenschliche Kraft in den Armen. Ich dachte, ich würde nicht lebend aus seinem Würgegriff entkommen.

Ich habe gemerkt, dass mein Mann tagsüber schläft und die Nächte am Computer verbringt. Die ganze Zeit habe ich mich gefragt, was er dort sucht, aber dann habe ich es vor ein paar Nächten gesehen und mich geschämt. Es ist mir peinlich, es zuzugeben, aber ich tue es doch: Der Großvater meiner drei Enkelkinder schaut Pornofilme, starrt mit Glotzaugen und ganz rot im Gesicht auf den Bildschirm, als würde ihm die Seele übergehen. Ich begann zu weinen und fragte ihn, warum er das tat, und da begann er, mich als Frau zu beleidigen: Ich sei dick und hässlich, er hätte mich nie geliebt, hätte sich aber wegen der Kinder nicht scheiden lassen wollen. Ich bin vor lauter Qual krank geworden, aber den Kindern kann nichts von unserer Schande erzählen. Ich habe meiner Tochter eines Tages gesagt, dass es bei uns zu Hause düster aussieht, und ich weiß, dass ich meinem Mann nicht mehr in die Augen schauen kann. Ich weiß, dass sie in unserem Dorf über uns lachen würden. Dort haben wir ein großes, schön eingerichtetes Haus und Familie, aber ich kann so nicht weitermachen, egal, was die Kinder und die Leute sagen. Es war zu viel!“

Vera Marjnaovic
Meine Berufung zur Journalistin entdeckte ich bereits als Sechzehnjährige während meiner Gymnasialzeit in Montenegro. Diesem Berufszweig bin ich seither treu geblieben. Nach meiner Ankunft in Wien widmete ich mich der Arbeit mit Mitgliedern der BKS-Gemeinschaft, wodurch ich tiefgreifende Einblicke in die Lebensgeschichten und sowohl die Triumphe als auch die Herausforderungen verschiedener Generationen gewann. Diese vielfältige Palette an Persönlichkeiten prägte meinen journalistischen Weg und festigte mein Engagement für soziale Themen.