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REPORTAGE

„Ich dachte, ich würde nicht lebend aus seinem Würgegriff entkommen“

„Sie haben mich zur Sklavin gemacht!“

Brana G. (39)

„Als die Ausgangsbeschränkungen eingeführt wurden, hat meine Firma für die meisten Angestellten Homeoffice angeordnet. Mein Mann (42), Manager in einem großen Unternehmen, hat begonnen, von zu Hause aus zu arbeiten, und meine Tochter (11) und mein Sohn (9) lernen derzeit online. In den ersten Tagen haben wir uns alle verhalten, als hätten wir Urlaub. Wir haben Gesellschaftsspiele gespielt, gemeinsam gekocht und geputzt, mein Mann und ich haben uns die Unterstützung der Kinder beim Lernen geteilt. Leider dauerte dieses Märchen nur kurz! Schon zu Beginn der zweiten Woche in Isolation begann mein geliebter Gatte sich zurückzuziehen und behauptete, er müsse arbeiten, aber er entschuldigte sich immerhin anständig, was mir jedoch auch nicht helfen konnte. Die Kinder wurden nervös und aufmüpfig und meine Versuche, sie zu unterhalten, zeigten kaum Erfolge.

Am Ende der zweiten Woche in Isolation trat ein neues, mir bisher unbekanntes Gesicht meines Lebenspartners zu Tage. Immer, wenn ich ihn bat, einen Teil der häuslichen Verpflichtungen zu übernehmen, antwortete er überheblich, dass er an einem wichtigen Projekt arbeitete, dass ich ja eh keine Arbeit hätte und dass ich meine Qualitäten als Hausfrau und Mutter zeigen sollte. Allerdings muss ich zugeben, dass er bisweilen selber in die Küche ging und sich einen Kaffee kochte, auch wenn er das sonst meistens von mir verlangte. Und dann, als ich eines Nachmittags demütig einen Teller mit einem Sandwich in sein Zimmer brachte, sah ich, dass mein „überarbeiteter“ Mann in den Bildschirm seines Laptops vertieft dasaß und völlig konzentriert ein Videospiel spielte! Es stimmt, ich habe die Wörter nicht gut gewählt, mit denen ich ihn in meinem Zorn bedachte, aber er stand nur auf, packte mich an der Schulter und stieß mich aus dem Zimmer. Er behauptete, ich sei verrückt geworden, was leider nicht so vorübergehend sei wie das Coronavirus.

Seit diesem Tag ist unsere Kommunikation vollkommen gestört. Er hat sich nicht bei mir entschuldigt, sondern erwartete, dass ich mich entschuldige. Aber das fällt mir gar nicht ein! Ich habe schon aufgehört, die Tage und Wochen der Isolation zu zählen. Mir scheint, dass uns eine Ewigkeit von einem normalen Leben trennt und dass wir kaum mehr miteinander reden. Wenn wir etwas zueinander sagen, dann ist das mehr wie das Knurren zweier blutrünstiger Raubtiere. Aber wie kann ich freundlich und geduldig sein, wenn ich weiß, dass er absichtlich hinter sich ein Chaos im Badezimmer hinterlässt, Essen auf der Arbeitsplatte in der Küche verstreut und in der Garderobe Unordnung macht, wenn er seine Sachen heraussucht? Absichtlich schickt er die Kinder, dass sie sich an Mama wenden, denn er bricht angeblich unter all seiner Arbeit zusammen, und ich habe erst zwei Seiten in dem Buch gelesen, das ich endlich zur Hand genommen habe. Er lehnt es ab, einkaufen zu gehen, und behauptet, dass er sich dabei nicht auskennt, und wenn er sich dann doch dazu herablässt, in das Geschäft gegenüber zu gehen, dann bringt er nur die falschen Sachen heim. Und das macht er absichtlich, nur um mich zu ärgern. Er nennt mich vor den Kindern einen verwöhnten Faulpelz, der lebensunfähig ist, und vergleicht mich mit seiner Mutter, die ihre drei Kinder ohne Waschmaschine und Geschirrspüler aufgezogen hat. Ich schweige dazu nicht und ich verletzte ihn auch mit giftigen Bemerkungen, aber ich bemühe mich, nicht zu schreien. Vor ein paar Tagen hat er mich mit aller Kraft geohrfeigt, weil ich ihn darauf hingewiesen habe, dass er mich nicht mit seiner Hexenmutter vergleichen soll, die ihn zu einem solchen Idioten gemacht hat. Das ist unser Ende! Nach 15 Jahren Ehe und Beziehung, die schon in der Mittelschule begonnen hat, nach allem, was wir zusammen erlebt haben, haben wir angefangen uns zu hassen. Wir waren zum ersten Mal ganz abgeschottet von unserer Umgebung, um uns herum keine Freunde und Familie, kein Gewusel, das es möglich gemacht hat, dass unsere Missverständnisse an der Oberfläche geblieben sind. Dieser Abgrund, der sich in den Wochen der Isolation gezeigt hat, hat uns einfach verschlungen.

„Während ich nachts im Wohnzimmer liege und ernsthaft nachdenke, finde ich auch meine Fehler, aber er hat jedes Maß überschritten.“

Ich habe mich entschieden, mich scheiden zu lassen, sobald das Leben wieder normal ist, und das habe ich meinem Mann auch gesagt. Die Ohrfeige war der Tropfen, der das Fass meiner Unzufriedenheit zum Überlaufen gebracht hat, aber vielleicht würde ich ihm sogar verzeihen, wenn nicht all diese Gemeinheiten, diese Barbarei und die Primitivität gewesen wären, die er gezeigt hat. Während ich nachts im Wohnzimmer liege und ernsthaft nachdenke, finde ich auch meine Fehler, aber er hat jedes Maß überschritten. Alles, was er mir in den letzten Wochen angetan hat, kann man als Gewalt bezeichnen. Am schlimmsten ist für mich, dass die Kinder das Verhaltensmuster ihres Vaters übernommen haben und im Befehlston fordern, dass ich ihre Wünsche erfülle. Einmal schmeckt ihnen die Suppe nicht, beim nächsten Mal wollen sie um Mitternacht Palatschinken. Von der Mama wird erwartet, dass sie ihnen Wasser bringt, ihnen bei den Hausaufgaben hilft, sie abfragt, mit ihnen spielt und ihre zahllosen Fragen beantwortet. Wenn ich ihnen sage, sie sollen sich einmal an den Papa wenden, antworten sie halb flüsternd, dass er arbeitet und ich nicht. Ich sehe, dass die Kinder beunruhigt sind, denn bisher hatten sie nie gehört, dass die Eltern streiten. Ich weiß, dass sie leiden werden, wenn sie verstehen, dass unsere Familie auseinanderfällt, aber ich werde meine Entscheidung nicht ändern. Wenn mich Freunde fragen, wer an der Scheidung schuld ist, werde ich sagen, dass es das Coronavirus war.“

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Vera Marjnaovic
Meine Berufung zur Journalistin entdeckte ich bereits als Sechzehnjährige während meiner Gymnasialzeit in Montenegro. Diesem Berufszweig bin ich seither treu geblieben. Nach meiner Ankunft in Wien widmete ich mich der Arbeit mit Mitgliedern der BKS-Gemeinschaft, wodurch ich tiefgreifende Einblicke in die Lebensgeschichten und sowohl die Triumphe als auch die Herausforderungen verschiedener Generationen gewann. Diese vielfältige Palette an Persönlichkeiten prägte meinen journalistischen Weg und festigte mein Engagement für soziale Themen.