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Balkan Stories: Gastarbajterska priča. Das serbische Weltreich

FOTO: Balkan Stories
FOTO: Balkan Stories

Diese neue Serie auf Balkan Stories erzählt Geschichten, die balkanische Einwanderer erster Generation erlebt haben oder erzählen. Im ersten Teil geht es um den Traum vom verlorenen serbischen Weltreich und die Theorie von der katholischen Verschwörung.

Deki setzt sich in Arbeitskleidung in den Schanigarten. Der Installateur ist am Heimweg.

„Hallo“, sagt er freundlich zu mir und winkt.

Mit mir redet er meist Deutsch. Deki ist als Kind hergekommen. Deutsch kann er besser als seine Muttersprache.

Ein Kleintransporter bleibt neben dem Schanigarten stehen. Fünf Männer in Baustellenkleidung hüpfen raus. Sie setzen sich an einen Tisch und bestellen Bier.

Deki bestellt eine Melange. Er trinkt weniger.

Wir plaudern über Urlaubspläne. Ich sage, dass ich Anfang September vielleicht in Ulcinj bin.

„Da gibt’s schöne Strände. Sandstrände, so wie in Albanien. Weiter oben gibt’s nur Felsstrände“.

„Die Albaner“, sagt Deki, „die sind zu 80 Prozent Serben. Da gibt’s genetische Studien, die das beweisen“.

„Red doch keinen Unsinn. Du musst dir Albaner nur anschauen und siehst schon, dass das nicht stimmt. Und erst die Sprache.“

„Die meisten Albaner stammen von uns ab. Die haben doch früher Illyrisch gesprochen. Das ist das Gleiche wie Serbisch“.

„OK“, sag ich, und stelle mich auf eine der üblichen balkanischen Lektionen in alternativer Geschichtsschreibung ein. Historische Verschwörungstheorien sind eines der liebsten Hobbies der Balkaner.

(Siehe etwa dieses Beispiel.)

Deki enttäuscht mich nicht.

„In ganz Europa haben sie früher nur zwei Sprachen gesprochen: Lateinisch und Illyrisch. Alles andere ist nachher gekommen. Ich hab die Geschichte genau studiert“.

Bewiesen werde das unter anderem mit einer 3.000 Jahre alten Steininschrift im Iran. „Die Leute dort haben natürlich nicht gewusst, was das ist. Aber dann haben sie die Bilder online gestellt, und serbische Historiker haben die Schrift als Kyrillisch identifiziert“, sagt Deki.

So weit nach Osten habe sich das serbische Weltreich erstreckt. Im Westen ging es bis an die Grenze des römischen Einflussbereichs.

„Die Griechen, die Kelten, die Albaner, die sind alle später gekommen“, sagt Deki. „Wir haben sie hier siedeln lassen. Und dann haben sie uns das Reich weggenommen, und wir haben es zugelassen. Wir sind eben ein friedliebendes und gutmütiges Volk“.

Die Serben außerhalb Illyriens hätten sich ebenfalls schnell gegen ihre Ahnen und Brüder gewandt, und vergessen, wer sie sind, Die Tschechen, die Russen, die Polen, die Slowaken. Vaterlandslose Gesellen, sozusagen.

„Das haben auch alle gewusst, bei uns. Das stand so in den Schulbüchern. Bis das Königreich Jugoslawien kam“, zeigt sich Deki empört. „Der König hat dann die katholische Lehre durchgesetzt. Die verschweigt das alles. Das ist ganz eindeutig.“

Auch die weltweite Geschichtswissenschaft und die weltweite Linguistik unterdrücken das alte Wissen und lehren nur die Theorien, die der Vatikan vorgibt.

Die Welt hat sich gegen die Serben verschworen, von Anbeginn der Zeit an, offenbar.

Woher hat Deki den Unsinn?

Zurück zuhause versuche ich herauszufinden, woher Deki diese leicht gewagten Theorien hat.

Es scheint auf Facebook ein paar Seiten zu geben, die diese Verschwörungstheorien propagieren. So weit eruierbar, hat interessanterweise das Nachrichtenportal Trebinje Live den ältesten Artikel, der die These vertritt, die Serben seien die alten Illyrer, und Illyrisch Serbisch. Er stammt aus dem Jahr 2016.

Wie üblich für derartige Theorien versucht der Autor das mit Zitaten antiker Historiker zu beweisen, die er aus dem Zusammenhang reißt oder sehr frei interpretiert.

Daraus hat sich im vergangenen Jahrzehnt eine offenbar immer ausgefeiltere Verschwörungstheorie entwickelt.

Um zu erklären, dass es andere slawische Sprachen gibt, und dass die sich ausdifferenziert haben, wurde das serbische Weltreich dazugedichtet.

Serbische Nationalisten sind nicht die Einzigen, die die antiken Illyrer mit den heutigen Balkanbewohnern gleichsetzen.

Albanische Nationalisten inszenieren die modernen Albaner ebenfalls als Nachfahren der Illyrer.

Das bosnische Gegenstück

Bei meiner Recherche stoße ich auch auf ein offenbar bosnisches Gegenstück zur Theorie von den serbischen Illyrern. Es erzählt eine sehr ähnliche Geschichte, allerdings durch die Brille der römisch-katholischen Missionierung.

Die Seite namens Ilirikon existiert seit dem Jahr 2019.

Unklar bleibt bei dieser Seite für mich, worauf sich der häufig gebrauchte Begriff Mazedonisch bezieht. Schließt er, ganz wie es mazedonische Nationalisten tun, die antiken Mazedonier mit ein?

In diesem Fall hätte das putative illyrische Reich mit Alexander dem Großen seinen Höhepunkt erreicht.

Sind bei Deki die Katholiken die Bösen, sind es für die Seite Ilirikon die Griechen beziehungsweise die orthodoxe Kirche.

Diese Verschwörungstheorien mögen relativ neu sein – angelegt sind sie freilich in einem Konflikt bei der Reform und Klassifizierung der Sprache ohne Namen Mitte des 19. Jahrhunderts.

Illyrische Begriffsverwirrungen

Einen wesentlichen Beitrag neben dem serbischen Sprachforscher- und reformer Vuk Stefanović Karadžić leistete die so genannte Illyrische Bewegung.

Der Name lehnt sich an eine damals gebräuchliche antikisierende Bezeichnung für die Balkanregion an. So bezeichnete etwa Kaiser Napoleon I. die dalmatinischen und ostalpinen Regionen, die er erobert hatte als Illyrische Provinzen.

Die kroatisch dominierte Illyrische Bewegung einige Jahrzehnte später war – ganz im Sinn des aufkeimenden Nationalismus – sowohl eine Sprach- wie Nationalbewegung. Damit stand sie in direkter Konkurrenz von Vuk Karadžić, der die Befreiung der Südslawen unter serbischer Dominanz vor Augen hatte.

Während Vuk und die Illyrische Bewegung durchaus auch kooperierten und die Grundlagen für die Modernisierung der Sprache ohne Namen legten, kam es auch zu gröberen Meinungsverschiedenheiten.

So warf Vuk der Illyrischen Bewegung vor, den Dubrovniker Dialekt fälschlicherweise für das kroatische Idiom zu vereinnahmen. Dubrovnik sei eigentlich altes serbisches Siedlungsgebiet.

Vielleicht ist dieser alte Konflikt die Wurzel für die Auseinandersetzungen etwa zwischen Dekis Verschwörungstheorien und dem Narrensaum, den Ilirikon vertritt.

Was Linguistik und Geschichtswissenschaft sagen

Dass beide Theorien dem Stand der Geschichtswissenschaften und der Sprachforschung widersprechen, ist offensichtlich.

Die Slawen kamen in mehreren Wellen im Frühmittelalter auf den Balkan und vermischten sich mit der örtlichen Bevölkerung. Letztere nahm die Sprache der neuen Einwanderer an.

Die Sprache bzw. die Sprachen der Südslawen nahmen in den folgenden Jahrhunderten eine teilweise etwas andere Entwicklung als die anderen slawischen Sprachen – die ihre eigenen externen Einflüsse und Ausdifferenzierungen hatten und haben.

Über die Entwicklung der slawischen Sprachen herrscht seit Jahrzehnten praktisch einstimmiger Konsens in der Philologie bzw. Linguistik.

Einen brauchbaren Überblick bietet diese Darstellung von Zbigniew Gołąb auf der Seite der New York University.

Auch wenn seine Studie einige Ungenauigkeiten enthält, zeigt sie die Entwicklung der Forschung bis zum Zeitpunkt der Abfassung Mitte der 1990-er. Seitdem hat es einige interessante Erkenntnisse gegeben, aber keine revolutionären Umwälzungen.

Die modernen slawischen Sprachen haben ihren gemeinsamen Ursprung in einer Sprache, die Wissenschaftler als Proto-Slawisch bezeichnen. Die hat sich von einem gemeinsamen Ast mit dem Vorfahren der baltischen Sprachen abgespalten.

Als Zeitpunkt dieser Abspaltung wird, soweit für mich erkennbar, offenbar allgemein etwa die Periode 1.500 Jahre vor unserer Zeitrechnung angenommen.

Siehe etwa auch diesen kompakten Überblick auf der wissenschaftsjournalistischen Seite Brewimate.

Leicht unterschiedliche Annahmen gibt es, wo genau zuerst Proto-Slawisch gesprochen wurde. Ist man sich einig, dass das in Osteuropa deutlich westlich der Volga war, unterscheiden sich die angenommenen Ursprungsorte im Detail um ein paar hundert Kilometer.

Das sind keine Widersprüche. Es gibt Grenzen dessen, was eine Wissenschaft wie Linguistik rekonstruieren kann.

Siehe diesen Artikel in der Encyclopedia Britannica.

So oder so, der Balkan gilt in keiner ernstzunehmenden Theorie als Ursprungsort der proto-slawischen Sprache.

Die Slawen kamen ab dem 6. Jahrhundert unserer Zeitrechnung in die Region. Wohl kaum eine Migrationsbewegung ist so gut dokumentiert und durch mehrere Wissenschaften abgesichert wie diese.

Forschungsergebnisse der Philologie über die Ausdifferenzierungen der südslawischen Sprachen decken sich mit dem Zeitrahmen, den Historiker anhand oströmischer Quellen ausgesteckt haben. Beides deckt sich mit Ergebnissen moderner DNA-Forschung.

Damit Dekis Theorie oder die von Ilirikon stimmen können, müssten all diese Ergebnisse falsch sein.

Das wären kolossale Irrtümer, wie man sie in der Geschichte der modernen Wissenschaft nur selten findet.

Sehr wahrscheinlich ist das nicht.

Ernst nehmen sollte man die Verschwörungstheorien von den illyrischen Slawen – oder Albanern – trotzdem. Sie sind mehr als harmlose Spinnereien. Sie sollen nationalistischen Ansprüchen eine wissenschaftlich aussehende Grundlage geben.

Anmerkung

Gastarbajterska priča ist als lose Serie gedacht. Sämtliche Namen meiner Gesprächspartner sind verändert. Örtlichkeiten werden, wenn nötig, so weit verfremdet, dass sie nicht identifizierbar sind. In dieser Serie soll die jeweilige Geschichte im Vordergrund stehen, und niemand bloßgestellt werden.

Anmerkung der Redaktion: Dieser Beitrag spiegelt ausschließlich die Meinung des Autors wider. Nicht die Meinung der KOSMO Redaktion.

Balkan Stories, Christoph Baumgarten

Christoph Baumgarten ist Journalist und Balkanreisender aus Leidenschaft. Seit 2015 verbindet er beide Leidenschaften auf seinem Blog Balkan Stories. Dort versucht er, Geschichten zu erzählen, für die es in größeren Medien meist keinen Platz gibt und stellt die Menschen in den Mittelpunkt.

Mehr von Christoph könnt ihr unter balkanstories.net nachlesen.