In keinem Land der Welt hat Mercedes einen so hohen Marktanteil wie in Albanien. Das ist mehr als Klischee, wie sich Balkan Stories überzeugen konnte. Freilich bringt der langsam steigende Wohlstand im Land den dreizackigen Stern zum Sinken.
Kostadin, mein Taxifahrer, bringt mich vom Flughafen in mein Apartment in Tirana. Er fährt einen Mercedes. Was sonst auch?
„Die Straßen bei uns sind schlecht. Ein Mercedes hält ewig. Außerdem kann man ihn für viel Geld weiterverkaufen“, sagt Kostadin. Er selbst hat seinen Wagen aus Stuttgart ebenfalls gebraucht gekauft.
Als wir am Parkplatz des Flughafens vorbeifahren, hat dem Augenschein nach etwa jeder dritte Wagen den dreizackigen Stern.
Freilich, solche Schnellbefunde können täuschen.
Die Sache mit dem Confirmation Bias
Ich kannte das Klischee von den mercedes-affinen Albanern vor meinem Abflug, hielt und halte es für wahr und suche unbewusst für Bestätigung für diese – beileibe nicht nur meine – These. Confirmation bias nennt man das in der Wahrnehmungspsychologie.
Es liegt nicht nur an diesem Bias, dass ich aus dem Staunen nicht mehr rauskomme, wie viele Mercedes in Tirana herumfahren. Auf dem Weg nach und in Lezhe wird sich der Eindruck bestätigen.
Kaum eine Ecke, wo man nicht den dreizackigen Stern sieht. Auf Autos in allen bei Mercedes gängigen Formen, Größen und Farben. Von kompakt bis zum SUV.
Mit dem Augenmaß bestimme ich den Mercedes-Anteil unter den Pkw auf zehn bis fünfzehn Prozent.
Wie sich bei meiner weiteren Recherche herausstellt, überkompensiere ich mit dieser konservativen Schätzung meinen Confirmation Bias.
Eine komplizierte Beziehung mit vielen Erklärungen
Mercedes und das Land der Adler, das ist eine jahrzehntelange und komplizierte Beziehung.
Warum die Autos des Stuttgarter Herstellers so beliebt sind, kann niemand vollständig erklären. Mehrere Aspekte scheinen hier ineinander zugreifen.
Da ist die Enver-Hoxha-These. Die hat sich bis nach Indien herumgesprochen.
Der kommunistische Diktator Albaniens hatte eine Schwäche für Mercedes. Warum auch immer.
War privater Autobesitz im sozialistischen Albanien verboten, waren Mercedes-Autos Jahrzehnte lang praktisch die einzigen Pkws, die man auf Albaniens notorisch schlechten Straßen sah.
Die Autos gehörten dem albanischen Staat, und wurden Funktionären der Partei der Arbeit und Beamten zur Verfügung gestellt.
Das soll gemäß der Hoxha-These den hohen Status, den Mercedes in vielen Ländern ohnehin genießt, in Albanien zusätzlich erhöht haben.
Wer etwas auf sich hielt, kaufte nach der kapitalistischen Restauration in den 1990-ern eine meist gebrauchte Karosse aus Stuttgart.
Es hielten damals viele etwas auf sich und wollten im postsozialistischen Chaos zeigen, dass sie es zu etwas gebracht hatten.
Nicht unplausibel. Eine vielleicht notwendige, aber keineswegs hinreichende, Begründung.
Eine weitere These hat mit der unbestreitbaren Qualität zu tun, die die Stuttgarter Autos lange hatten. Bevor sie mit Elektronik vollgestopft wurden, musste man sich anstrengen, um so einen Mercedes umzubringen. Zumindest dem Ruf nach konnte da nicht einmal der ebenfalls notorisch robuste VW Golf mithalten, dem man in Jugoslawien und seinen Nachfolgestaaten so zugetan war.
Ideal für die schlechten Straßen Albaniens – die auch mit Enver Hoxha zu tun hatten.
Hoxha befürchtete ständig, dass eine Invasion von links und rechts bevorstand. Die NATO, Jugoslawien oder der Warschauer Pakt. Alle wollten Albanien an den Kragen, war er überzeugt.
Um eventuellen Angreifern eine Invasion so schwer wie möglich zu machen, wurden die Straßen bewusst in schlechtem Zustand gehalten. Den Beton, den man für Ausbau und Instandhaltung gebraucht hätte, verwendete man lieber, um beinahe 200.000 Bunker zu bauen.
Nur Mercedes gibt es heute mehr in Albanien als Bunker.
(Mehr über dieses unerwünschte Erbe Enver Hoxhas könnt ihr hier nachlesen.)
Auch das eine plausible These. Allein reicht sie auch nicht aus, um den Mercedes-Boom zu erklären.
Ein weiterer, notwendiger, Bestandteil zum Verständnis der hohen Mercedes-Dichte im Land ist die bittere Armut im Land auch lange nach dem Zusammenbruch von Enver Hoxhas bizarrem Regime.
Mit sehr wenigen Ausnahmen konnten sich Albaner nur Gebrauchtautos leisten. Ein Mercedes war da vielleicht vergleichsweise teuer, aber er hielt seinen Wert länger als andere Autos. Ein wichtiger Aspekt in unsicheren Zeiten wie den turbulenten 90-ern mit kurzem de facto-Bürgerkrieg und dem desaströsen Pyramiden-Schema.
Ähnliches kann bei Roma am Balkan beobachten: Wenn es ein Auto ist, ist es häufig ein Mercedes. Er ist in einer generell unsicheren Situation eine mobile Wertanlage.
Bemerkenswert ist auch, dass die Mercedes-Verliebtheit der Albaner Teil der nationalen Kultur ist, nicht der ethnischen.
Im Kosovo hatte die Automarke nie einen auch nur einen annähernd hohen Markteil.
Wie der Wohlstand Mercedes zusetzt
Seit den 1990-ern ist der Wohlstand in Albanien in bescheidenem Ausmaß gestiegen.
Das bringt den dreizackigen Stern aus Stuttgart rapide zum Sinken.
Vor zwei Jahren waren laut der albanischen Verkehrsbehörde etwa 30 Prozent aller Kraftfahrzeuge im Land von Mercedes, wie man in dieser Reportage der DW nachsehen kann.
Das ist immer noch ein etwa sechs mal so hoher Mercedes-Anteil wie in Österreich. Für Deutschland ließen sich keine aussagekräftigen jüngeren Statistiken finden.
Zumindest die Hauptverkehrsadern des Landes hat die albanische Regierung in den vergangenen Jahrzehnten ausgebaut. Stadtbewohner haben kaum mehr Bedarf an besonders robusten Autos.
Viel mehr Menschen als früher können sich neue Autos leisten. Da wollen sich viele absetzen von denen, die einen gebrauchten Mercedes für ein Statussymbol halten.
Und in Albanien kann man es sich mittlerweile leisten, zumindest in bescheidenem Ausmaß an Umweltschutz zu denken. Autos, die nicht mindestens der Abgasnorm Euro 4 entsprechen, dürfen nicht mehr eingeführt werden.
20 oder 30 Jahre alte Autos aus Stuttgart, die lange so beliebt waren, werden nicht mehr importiert.
Bei Neuzulassungen hat mittlerweile VW Mercedes den Rang abgelaufen. Gleichwohl bleibt der Stuttgarter Anteil mit fast 18 Prozent bei neu zugelassenen Autos respektabel.
Geradezu absurd hoch bleibt die Mercedes-Dichte in Bereichen, in denen Langlebigkeit das alles entscheidende Kriterium bleibt.
Bei Kleintransportern und Minibussen liegt der Anteil bei nahezu 100 Prozent.
Dieses Exemplar dürfte aus den 70-ern oder 80-ern stammen. Der aktuelle Besitzer macht kein Geheimnis daraus, woher er es hat.
In der Touristenstadt Lezhe nahe der Grenze zu Montenegro wird der städtische Nahverkehr ausnahmslos von mehr oder weniger konzessionierten Kleinunternehmern betrieben. Jeder von ihnen fährt einen Mercedes-Minibus.
Der, mit dem ich zu meinem Apartment beim Strand von Tale, einer Katastralgemeinde von Lezhe, fahre, hat laut Tachometer an die 440.000 Kilometer hinter sich.
Am Strand treffe ich einen Pensionisten aus dem Kosovo. Er war lange Leiharbeiter bei der VW-Nutzfahrzeugtochter MAN in München. „Ach, 400.000 Kilometer ist doch gar nichts“, erzählt er. „Bei VW und bei Mercedes sind diese Fahrzeuge auf eine Million Kilometer ausgelegt.“
Es scheint, als hätte der Minibusunternehmer eine gute Investition getätigt.
Um die Stuttgarter Produkte wird man sich trotz sinkenden Marktanteils auf ihrem Vorzeigemarkt in den nächsten Jahren wohl keine Sorgen machen müssen.
Der dreizackige Stern wird Albaniens Straßen auch in absehbarer Zeit prägen wie nirgends sonst auf der Welt.
Balkan Stories, Christoph Baumgarten
Christoph Baumgarten ist Journalist und Balkanreisender aus Leidenschaft. Seit 2015 verbindet er beide Leidenschaften auf seinem Blog Balkan Stories. Dort versucht er, Geschichten zu erzählen, für die es in größeren Medien meist keinen Platz gibt und stellt die Menschen in den Mittelpunkt.
Mehr von Christoph könnt ihr unter balkanstories.net nachlesen.
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