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INTERVIEW

Dr. Nele Karajlić: „Ich würde alles genauso wieder machen!“

FOTO: Vladan Cvetkovic

NADREALISTA („SURREALIST“). Er war fast noch ein Kind, als er die Sarajevoer und dann auch die jugoslawische Kunstszene mit seinem Mut heftig aufrüttelte. Er sprach und sang über das, was andere sich kaum zu denken trauten.

Eigentlich lautet sein wahrer Vorname Nenad und sein Familienname Janković. Alle kennen ihn, vom Vardar bis zum Triglav, aber als Dr. Nele Karajlić. Obwohl schon fast 55 Lebensjahre hinter ihm liegen, in denen er aus dem Nichts unter die Stars aufstieg, wieder zurückfiel und es wieder bis auf den Gipfel schaffte, ist er im Aussehen und in der Sprache doch ein ewiger Bub geblieben. Rebellisch in einer Zeit, von der viele sagen, dass sie für „Schweiger“ am sichersten war, machte er auf fast schon verrückt couragierte Weise mit den Liedern seiner Band „Zabranjeno pušenje“ und auch in der Kult-Fernsehserie „Top lista nadrealista“ lautstark auf sich aufmerksam. Google nennt Nele einen Komiker, obwohl er immer über die ernstesten Themen gesprochen hat. Allerdings tat er das ausgesprochen humorvoll und charmant, und das Bedürfnis, direkt und deutlich auf gesellschaftliche und andere Missstände hinzuweisen, hat ihn bis heute nicht verlassen. Davon zeugt auch das Interview, dass er dem Magazin KOSMO gegeben hat.

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KOMÖDIE. Die Kultvorstellung „Audicija“, die Millionen von Zuschauern im ganzen ehemaligen Jugoslawien begeistert und zum Lachen gebracht hat und in den achtziger Jahren des letzten Jahrhunderts enorme Popularität genoss, ist in diesem Herbst in B-H ganz groß auf die Bühne zurückgekommen, organisiert von Stage Production.

KOSMO: Was verbindet Nenad Janković mit Dr. Nele Karajlić?
Nele Karajlić: Ich glaube immer weniger, dass sie irgendetwas gemeinsam haben. Es ist eher wahrscheinlich, dass Nenad Janković ein Opfer Doktor Karajlićs ist. Aber das lässt sich schwer nachweisen.

Sie sind einer der Begründer der Bewegung Neuer Primitivismus in Sarajevo. Bitte definieren Sie diese Bewegung für uns.
Es gibt viele Definitionen des Neuen Primitivismus. Von der, dass das der erste präzise Schuss seit Gavrilo Princip ist, bis zu der, dass es die einflussreichste Antwort auf den Punk aus dem ehemaligen Jugoslawien ist. Ich glaube, dass es sich um eine Frechheit einer Gruppe Jugendlicher handelt, die sich das Recht herausgenommen haben, eine respektable Kunstbewegung ins Leben zu rufen, ohne irgendeine Ahnung von Kunst zu haben. Diese Unkenntnis war ihre stärkste Waffe.

Wie ist die „Top lista nadrealista“ („Hitliste der Surrealisten“) entstanden und wie haben Sie sich für dieses Programm von Radio Sarajevo qualifiziert?
Wie alles im Leben: zufällig. Wir sind gemeinsam ins selbe Gymnasium gegangen. Der Bruder meines Freundes arbeitete als Redakteur im Radio. Sein Name ist Boro Kontić. Der hatte den Mut, Gymnasiasten aufzufordern, im Radio Humor zu machen. Er hatte Vertrauen zu uns. Und dann konnte uns nichts mehr aufhalten.

„Zabranjeno pušenje“ (Rauchen verboten“) und die Fernsehsendung TLN haben Sie in den Himmel der Stars katapultiert. Waren Sie in diesem jugendlichen Alter bereit für so einen Flug?
Natürlich nicht. Da gab es eine Disparität. Auf der einen Seite war „Pušenje“ eine Garagenband mit Texten, die sich scharf gegen das damalige politische Establishment wandten und in denen ein soziales Element vorherrschte. Wir waren alles, nur keine Gruppe, die über Liebe sang. Auf der anderen Seite waren wir dank der „Nadrealista“ und des „Zenica Bluz“ zu Berühmtheit gelangt und gehörten plötzlich zu den Bands, die in großen Hallen und Stadien spielen konnten. Das konnte die Regierung nicht tolerieren.

MUT. „Wenn du jung bist, hast du vor nichts Angst, du bist überzeugt, dass du das Richtige tust.“

Sie haben für TLN auch politische Sketche geschrieben. Hatten Sie niemals Angst, den Finger ins Auge der politisch Unantastbaren zu stecken?
Wenn du jung bist, hast du vor nichts Angst. Du bist überzeugt, dass du das Richtige tust, nach deinem Gewissen handelst und dass dich nichts daran hindern kann.

„Die internationale Gemeinschaft hat in der Geschichte immer die Wasser auf dem bewegten Boden des Balkan getrübt.“

Sagen Sie ehrlich, hatten Sie irgendeinen Schutz „von oben“?
Nein, in keiner Weise. Unser Glück war nur, dass die kommunistische Pyramide gerade während unseres Aufstiegs einzustürzen begann. Da haben wir dann eine Lücke in der zerberstenden Wand genutzt und die Freiheit ergriffen. Glauben Sie mir: Die Zeit von 1987 bis zum Beginn des Krieges in Jugoslawien war die Zeit mit der größten Medienfreiheit in der Geschichte, und es wird kaum eine neue Zeit kommen, die diese übertrifft, weil nämlich die Medien selbst auch unsicher waren, für wen sie arbeiten sollten.

Als Sie damals, 1984 bei einem Konzert von „Zabranjeno pušenje“ in Rijeka sangen, dass der „Marshall“ eingegangen sei, und dabei an den Lautsprecher dachten, wurde TLN aus dem Fernsehprogramm genommen. Waren Sie sich damals bewusst, dass Sie dieser Mut den Kopf kosten könnte?
Ich habe das als Folge des verrückten Flugs begriffen, auf dem wir durchs Leben rauschten. Wir waren uns der Macht unserer Worte ebenso wenig bewusst wie der Macht derer, die diese Worte im Zaum halten wollten. Wir hatten das große Glück, dass die politische Oligarchie in dieser Zeit ganz mit sich selbst beschäftigt war. Die personellen Veränderungen an der Spitze der Kommunisten Kroatiens hatten einen Riss ins System gemacht, sodass ich praktisch ohne Strafe davongekommen bin. Wenn dieses Delikt ein paar Jahre früher passiert wäre, wäre ich unweigerlich im Gefängnis gelandet. Aber wer weiß, vielleicht wäre ich dann anschließend Staatspräsident geworden.

„Ich bin schon lange nicht mehr im Gleichgewicht… „u vinklu“,
wie man früher sagte“, meint Dr. Nele Karajlić.

In den Jahren vor dem Kriegsausbruch in Bosnien-Herzegowina haben Sie von TLN gezeigt, dass Sie Visionäre sind. Hatten Sie sich vorgestellt, dass so viel Blut auf den Straßen ihrer Geburtsstadt fließen würde?
Man spürte das Unglück auf Schritt und Tritt. Das konnte nur jemand übersehen, der die Augen davor verschloss. Aber dass die Katastrophe so groß werden würde, das wäre niemandem von uns eingefallen. Leider hat uns die Geschichte wieder in eine niedrigere Klasse zurückgestuft. Wir haben sie nicht verstanden.

Was war der unmittelbare Anlass für Sie, Sarajevo zu verlassen?
Der Beginn der militärischen Operationen im Gebiet von Bosnien-Herzegowina. Da ich meine ganze Kraft dafür eingesetzt hatte, dass es nicht zum Krieg käme, war der Kriegsbeginn mein Untergang. Da Krieg nicht in meiner Natur liegt und da meine bisherigen Mitbürger zu den Waffen griffen, habe ich mich entschieden, dabei nicht mitzumachen.

War Ihr Umzug nach Belgrad die Begegnung mit einer anderen Welt?
Aber nein! Belgrad kannte ich schon vor dem Krieg wie meine Hosentasche. Ich weiß nicht, wie oft wir in Belgrad aufgetreten waren, auf kleinen Bühnen wie der Akademie und dem KST bis hin zu großen in der Eishalle Pionir und in der Messe. Belgrad ist eine große Stadt, die eine magische Anziehungskraft hat. Sie hat viele schwere Zeiten durchgemacht, unter anderem in den Neunzigern.

Mit der Trennung von Zabranjeno pušenje und der Absetzung von TLN sowie der Übersiedlung nach Belgrad hätte auch ihr professioneller Status verloren gehen können. Woher haben Sie die Kraft für den Neuanfang genommen?
Ich liebe Anfänge. Immer, wenn ich bei Null angekommen bin, fühle ich mich wie zu Hause. 1991 war nicht mein erster Untergang. Das ist auch vorher schon passiert, 1986, als die Hälfte der Musiker Pušenje verlassen haben. 1992 war deswegen besonders, weil ich nicht wusste, ob ich meine Karriere überhaupt fortsetzen oder wie meine viele meiner Kollegen nach Kanada auswandern sollte. Am Ende war ausschlaggebend, dass die Arbeit, die ich gemacht habe, nicht nur meiner Familie und mir das Überleben gesichert hat, sondern auch vielen meiner Freunde, denen ich Hilfe in die Kriegsgebiete geschickt habe.

Nach dem Krieg hat ein Teil der „Nadrealista“ die Arbeit in B-H fortgesetzt und Sie haben 2012 bei einem Belgrader Fernsehsender auf den Fundamenten der Kultsendung eine neue Serie gedreht. War das nicht auf beiden Seiten der Versuch, Tote wiederzubeleben, bzw. ein Zeichen von Sehnsucht nach vergangenen Zeiten?
Ich finde nicht, dass das eine Wiederbelebung von Toten war. Was wir gemacht haben, sowohl die in Sarajevo also auch ich in Belgrad, hatte nichts mit den „Nadrealisti“ zu tun, aber es war beides gut. Ich glaube, der Versuch, die originalen „Nadrealisti“ fortzusetzen, wäre ein Ritt auf toten Pferden gewesen. Meine Nadrealna Televizija („Surreales Fernsehen“) hatte ein ganz anderes Konzept. Zum Glück habe ich mutige Produzenten gefunden, die mir geholfen haben, etwas zu machen, was der Natur der Sache nach nicht kommerziell sein konnte, aber eine deutliche Botschaft transportierte. Surrealistisches Fernsehen kommt erst noch…

NO SMOKING. „Die Arbeit mit Emir war ohne Zweifel der aufregendste Teil meiner Karriere.“

Die Gruppe „Zabranjeno pušenje“ hat nach der Trennung ihre Arbeit in Sarajevo und in Belgrad fortgesetzt. Die alten Fans behaupten jedoch, dass keine Seite an das herangekommen ist, was die Gruppe in der Originalbesetzung produziert hat. Wie stehen die Chancen, dass Sie zumindest noch einmal gemeinsam auftreten?
1.300.000 Euro. So viel würde eine Neubelebung von „Zabranjeno pušenje“ ungefähr kosten. Plus Spesen. Aber wenn man bedenkt, wie sich die Tycoons an uns bereichert haben, ist das keine große Summe.

Haben Sie sich in der Arbeit mit Emir Kusturica und dem „No Smoking Orchestra“ musikalisch genügend ausgelebt?
Die Arbeit mit Emir und „No smoking“ war sicher der aufregendste Teil meiner Karriere. Wenn man die Dauer vergleicht, habe ich viel länger mit „No smoking“ gearbeitet als mit „Zabranjeno pušenje“. Musikalisch war das ein fantastischer Schritt vorwärts, unvergleichbar mit dem, was im ehemaligen Jugoslawien und der Region sonst vor sich ging. Mit dieser Musik haben wir im wahrsten Wortsinn die ganze Welt angesteckt. Irgendwann in der Mitte des ersten Jahrzehnts des 21. Jahrhunderts gab es auf der Welt keine Gruppe, die das Publikum besser mitreißen konnte als wir. Wir waren ein Fleischwolf. Leider hat mich ein Herzinfarkt auf diesem Weg gestoppt.

Ihre Erinnerungen haben Sie in dem Buch „Fajront u Sarajevu“ („Feierabend in Sarajevo“) zusammengefasst. Haben Sie, wie die Kritiker meinen, durch dieses schmerzhafte Werk Ihre Gefühle ins Gleichgewicht gebracht?
Ich bin schon lange nicht mehr im Gleichgewicht… „u vinklu“, wie man früher gesagt hat.

In Ihrer bisherigen Karriere waren Sie Musiker, Schauspieler, Drehbuchautor, Regisseur und Schriftsteller. In welcher der genannten Künste haben Sie sich am ehrlichsten und am erfolgreichsten ausdrücken können?
In jeder dieser Künste will ich mein Bestes geben. Ich versuche immer, mich selber zu übertreffen. Manchmal gelingt mir das, manchmal nicht. Am besten fühle ich mich, wenn ich ein Buch schreibe. Das ist meine Art zu meditieren. Daraus gehe ich bereichert und näher am Glück hervor.

Woran arbeiten Sie in letzter Zeit?
Ich schreibe einen Roman über eine Familie, die Ende des neunzehnten Jahrhunderts nach Belgrad gekommen ist. So, wie es Belgrad im zwanzigsten Jahrhundert ergangen ist, so ist es auch dieser Familie ergangen. Das wird aufregend und interessant. Wenn bloß die in Stockholm einmal an mich denken würden… Aber wenn nicht, genießen Sie mein Buch!

NO SMOKING. „Die Arbeit mit Emir war ohne Zweifel der aufregendste Teil meiner Karriere.“

Haben Sie es je bereut, dass Sie Ihr Studium der Orientalistik nicht abgeschlossen haben und nicht, statt der Kunst, akademische Arbeit betrieben haben wie Ihr Vater?
Der Balkan ist nicht für Menschen gemacht, die akademische Arbeit betreiben wollen. Ich glaube, so war es besser. Es gibt einen Vers, den ich immer wiederhole, wenn mir diese Frage gestellt wird: „Wenn der letzte Stern am Himmel erlösche, wenn die Erde sich von der Sonne trennte, wenn die Sava mit der Donau schwanger würde, würde ich dasselbe Leben leben.“

Und am Ende muss ich zur Politik auf dem Balkan kommen, mit der Sie sich übrigens in Ihrer künstlerischen Arbeit auch beschäftigt haben. Wir sind Zeugen einer bisweilen heftigen Rhetorik zwischen den politischen Führern der Region, die vielleicht noch schlimmer wäre, wenn sie nicht von Brüssel und Washington unter Kontrolle gehalten würde. Besteht Ihrer Meinung nach die Chance einer ehrlichen und dauerhaften Versöhnung und wie kann man sie erreichen?
Das ist möglich. Wenn sich alle an einen Tisch setzen und offen über die Probleme reden, ohne Beeinflussung durch die sogenannte Internationale Gemeinschaft. Die hat in der Geschichte immer das Wasser auf dem bewegten Boden des Balkan getrübt. Sie hat nur Unglück gebracht, aber gesagt, dass sie den Frieden bringt. Ohne ihre Einmischung ist die Lösung zum Greifen nah.

Vera Marjnaovic
Meine Berufung zur Journalistin entdeckte ich bereits als Sechzehnjährige während meiner Gymnasialzeit in Montenegro. Diesem Berufszweig bin ich seither treu geblieben. Nach meiner Ankunft in Wien widmete ich mich der Arbeit mit Mitgliedern der BKS-Gemeinschaft, wodurch ich tiefgreifende Einblicke in die Lebensgeschichten und sowohl die Triumphe als auch die Herausforderungen verschiedener Generationen gewann. Diese vielfältige Palette an Persönlichkeiten prägte meinen journalistischen Weg und festigte mein Engagement für soziale Themen.