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INTERVIEW

Marcelo: „Es sind dieselben Anführer, die uns in den Krieg und in die EU geführt haben“

Das neue Album von Marcelo „Nojeva varka” und der Song „JBG” sorgten für viel öffentliche Aufmerksamkeit. (FOTO: Albin Melez)

Wenn wir an die nicht ganz so ferne Vergangenheit denken, da waren Sie Sprecher und Teilnehmer der Proteste „1 von 5 Millionen”. Sie haben die Ideen der protestierenden Bürger mit Wort und Tat unterstützt. Was, würden Sie sagen, hat sich in Serbien in den vergangenen drei Jahren, seitdem diese Proteste im ganzen Land stattgefunden haben, verändert?
Marko Selic Marcelo: Es gab auch davor und danach noch Proteste, und zwar viele. Der Grundgedanke des Albums ist gerade das Auflisten der Ergebnisse, d.h. der Schluss, dass es überhaupt keine gab. Ergebnisse dürften ihrer Definition nach keine besonders abstrakte Kategorie sein, sie gehören an sich in die Domäne des Konkreten. Wenn wir es so betrachten, dann sieht man keine, weil es leider auch keine gibt. Wir haben den wunderbaren Kampfgeist von zehn- oder vielleicht insgesamt sogar hunderttausenden Menschen, Patrioten, die es wirklich gut meinen mit ihrem Land und die nicht in dieses betäubte Egal verfallen sind. Und wir haben auf der anderen Seite eine Opposition, die das politisch nicht artikulieren und keinen Nutzen daraus ziehen kann. Das ist noch die Tatsache, dass Massenproteste es nicht schaffen, noch massenhafter zu werden, noch mindestens ebenso viele Menschen zu inspirieren und auf die Straße zu bringen. Auf der dritten Seite ist die Straße leider die einzige Institution, die hier noch funktioniert, die einzige Form wirklichen Drucks, dem es manchmal gelingt, Entscheidungen der Regierung zu verändern (oder zumindest vorübergehend zu verändern). Aber es ist nicht gut, dass die Regierung die Regeln dieses Spiels verstanden hat: Sie gehen auf gewisse Forderungen ein, warten, dass sich der Sturm legt, und dann versuchen sie das, was sie ursprünglich wollten, durch die Hintertür einzuführen. Da, würde ich sagen, liegt im Moment das Problem.

Ein Land, in dem die Institutionen tatsächlich funktionieren, in dem es kein autoritäres Regime gibt, in dem man, wenn man es braucht, medizinisch behandelt wird wie ein menschliches Wesen.

Marko Selic Marcelo

Was Sie der Gesellschaft übel nehmen, ist ganz klar, aber über welche Gesellschaft würden Sie gerne schreiben? Was sollte sich in Serbien, aber auch unter den Serben verändern?
Marko Selic Marcelo: Vor allem mag ich es weder, wenn jemand denkt, dass wir so viel besser sind, noch, wenn jemand denkt, dass wir so viel schlechter sind als andere Völker. Wir haben so viele tolle Persönlichkeiten, so viele glänzende Momente in unserer Geschichte und Tradition, soviel Charakter, wenn es schwierig wird. Und wenn jemand anders drei so verrückte Jahrzehnte gehabt hätte, ginge es ihm heute auch nicht gut. Wir sind in eine schlechte Lage hineingerutscht, teilweise durch eigene Schuld, teilweise durch die Situation bedingt, und wir konnten uns daraus einfach nicht befreien, aus der Höhle herauskämpfen, in die wir gerutscht sind. Wenn ich das sage, denke ich an alle Völker hier in der Region, nicht nur an meines. Und es ist nicht die Frage, über welche Gesellschaft ich gerne schreiben möchte, denn ich kann auch einfach gar nicht darüber schreiben. Die Frage ist, in welcher Gesellschaft ich gerne leben würde. Das ist keine utopisch-idealistische Frage, wir wissen alle, dass es überall Probleme gibt. Jedoch ist ein Land, in dem die Institutionen tatsächlich funktionieren, in dem es kein autoritäres Regime gibt, in dem man, wenn man es braucht, medizinisch behandelt wird wie ein menschliches Wesen in seiner Würde, in dem zumindest ein notorisches Vertrauen in die Gerichte und die Polizei besteht, in dem ein Parteibuch nicht der wichtigste und einzige Trumpf ist… das klingt nach dem logischen Minimum.

Wir sind in eine schlechte Lage hineingerutscht, teilweise durch eigene Schuld, teilweise durch die Situation bedingt.

Marko Selic Marcelo

Im Laufe Ihrer langjährigen Karriere hat sich Ihr Publikum verändert und bisweilen hören, wie Sie selber sagen, auch Fans von IDJ und Ceca Ihre Musik. Man könnte daher sagen, dass die breiten Massen Ihre Verse hören. Sind diese Verse auch an alle gerichtet? Glauben Sie, dass wirklich alle sie so verstehen, wie Sie sie gemeint und geschrieben haben?
Marko Selic Marcelo: Das ist es, was mich an den Playlists einiger junger Kids verwundert. Sie sind zu breit. Und man kann das nicht als Breite des Geschmacks verteidigen, denn Geschmack setzt irgendein Kriterium voraus, sonst wäre es kein Geschmack. Wo alles geht, herrscht kein Geschmack. Abgesehen davon bin ich kein Vertreter eines elitären Zugangs zur Kunst, der Idee, dass etwas „nicht für jeden ist”. Es stimmt, Kunst erfordert oft gewisse Vorkenntnisse und eine Beschäftigung, die nicht allen Spaß macht, aber sie muss die Menschen nicht durch irgendeine zusätzliche, absichtliche hermetische Geschlossenheit von sich „treiben”. Sie muss sich nicht einschmeicheln und anbiedern und muss auch nicht vollkommen banal und seicht sein, aber sie darf ihre Tore auch nicht verschließen und mit einem „Nichts für dich”-Schild versehen. Ich meine, Kunst muss würdig, aber niemals snobistisch sein.

Mit ihrer Stimme trug Nensi zum Gesamteindruck des Songs „Atme” bei, mit der das Album auch vorgestellt wurde. (FOTO: Albin Melez)

Manche Texte, die Sie geschrieben haben, fordern die Menschen auf, sich viele Fragen zu stellen. Was können wir in Zukunft von Ihrer musikalischen Arbeit, aber auch von Ihrem literarischen Schaffen erwarten?
Marko Selic Marcelo: Naja, es wird ein aufregendes Jahr: Meine wichtigste kreative Aufgabe ist ein neuer Roman. Aber wir arbeiten auch einer physischen Ausgabe von „Nojeva varka” (Doppel-CD und Doppel-LP), an der Veröffentlichung einer Musik zu Shakespeares „Sturm” in der Regie von Kokan Mladenović, am Projekt Zaradsutra (ein Mini-Album mit sieben Liedern, im Tandem mit meinem Freund, der sich hinter dem Pseudonym Sinovatz verbirgt), an einer Gedichtsammlung, die nicht vertont wird… Und parallel zu all dem schreibe ich freitags eine Kolumne für die Tageszeitung Danas, bin Redakteur aller Ausgaben des italienischen Kult-Comics „Dilan Dog” für unseren heimischen Markt und Coautor der regionalen Fernsehsendung „Perspektiva”, die alle Regionen bereist und mit Mittelschülern und Studenten über die gesellschaftliche Situation und mögliche Lösungen spricht. Das heißt: Es gibt keinen Stillstand und man darf sich nicht entmutigen lassen.