INTERVIEW

Marcelo: „Es sind dieselben Anführer, die uns in den Krieg und in die EU geführt haben“

Wie es mit der gesellschaftlich-politischen, aber auch ­musikalischen Situation am Balkan aussieht, darüber hat Marcelo mit KOSMO gesprochen. (FOTO: Albin Melez)

Marko Selic Marcelo, ein Schriftsteller, dem, wie er sagt, die Musik mit seiner Dichtung und Prosa einfach „passiert” ist, enthüllt bereits seit zwei Jahrzehnten die balkanische Realität und zielt auch außerhalb der Musik ins Herz der Probleme. Wie es mit der gesellschaftlich-politischen, aber auch ­musikalischen Situation am Balkan aussieht, darüber hat Marcelo mit KOSMO nach seinem Konzert in Wien in der Organisation Serbisches Kulturforums gesprochen.

KOSMO: Sie gelten bereits seit Jahren als Autor, dessen Verse eine intime Kenntnis der Gesellschaft verraten, in der Sie leben. Viele sind der Meinung, dass Sie die gesellschaftlichen und politischen Zustände in Serbien richtig und schonungslos darstellen. Wie würden Sie als Bürger, aber auch als Musiker und Autor die Situation beschreiben, in der Serbien am 4. April, nach den Wahlen, aufgewacht ist?
Marko Selic Marcelo:
Es ist leider nicht aufgewacht. Die Anästhesie war doch zu stark. Oder die Menschen haben sich gedacht, dass aufgrund der internationalen Situation gerade nicht der richtige Moment für große Veränderungen im Inland ist. Oder sie haben einfach gar nichts gedacht. Es wird immer schmerzhafter, darüber zu reden; Das sind meine Landsleute, das ist mein Land, und das sind keine kalten Analysen aus irgendwelchen ausgelagerten Labors. Ich betrachte die Situation, in der ich mich selber befinde. Aber es sieht aus, als gäbe es hier mehrere Wirklichkeiten gleichzeitig. Andere Erklärungen verschwinden für mich immer mehr.

Auch wenn Sie nicht Politologe oder Soziologe von Beruf sind, geben Ihnen auch viele Experten in Ihrer Beurteilung der Gesellschaft Recht. Im Lied „Udahni”, mit dem Ihr neues Album „Nojeva varka” beginnt, heißt es: „Devedesete ispred i iza… Kao da sam dva’es godina bio u komi i probudio se danas.” („Die Neunziger vor uns und hinter uns… Als wäre ich zwanzig Jahre im Koma gelegen und heute aufgewacht.”) Lebt Serbien noch immer in den neunziger Jahren? Was hat das Volk in den letzten 30 Jahren gemacht?
Marko Selic Marcelo: Die ganze Region liegt im Koma. Allerdings ist das jetzt eine abgemilderte Version der Neunziger, es fehlen die schlimmsten, die schwärzesten Zutaten. Es gibt keinen Krieg, keine Sanktionen, keine Bombardierung, was natürlich super ist. Aber es ist traurig, dass das schon so ungefähr alle unsere Erwartungen ans Leben sind: dass es nur keinen Krieg, keine Sanktionen, keine Bomben gibt. Wir wissen, wie das blanke Entsetzen aussieht, daher ist für uns jedes bisschen Wohlbefinden schon ein Segen. Aber die politischen Eliten rasseln zu Marketingzwecken in ihren Sesseln alle paar Augenblicke mit ihren Säbeln und wir hängen in einem Zustand fest, den man „Nicht-Krieg” nennen könnte. Ein Freund, der sich seit Jahren mit dem Aufbau des Friedens beschäftigt und in geteilten Regionen arbeitet, hat mir diesen Begriff genannt: Das ist das, was zum Glück kein Krieg ist, aber auch nie wirklich zu einem Frieden geworden ist. Der niedrige Lebensstandard, der mancherorts ganz in Armut übergegangen ist, trägt sicher auch nicht zum allgemeinen Klima bei. Die Menschen leben von der Hand in den Mund, dieselben Führer haben uns in den Krieg und in die EU geführt, da versteht niemand mehr irgendetwas. Was haben wir also 30 Jahre lang gemacht? Wir leben an der Peripherie unserer selbst und beobachten von da aus unsere eigenen Leben, als wären es fremde.

Was haben wir also 30 Jahre lang gemacht? Wir leben an der Peripherie unserer selbst und beobachten von da aus unsere eigenen Leben, als wären es fremde.

Marko Selic Marcelo

In dem Lied hört man auch Folgendes: „Entspann dich und lass es, das Schiff fährt in der Ferne. Entspann dich und lass es, diese Welt gehört nicht dir.“ Wem gehört dann der Staat, wenn es nicht der Staat seines Volkes, d.h. des einfachen Bürgers ist?
Marko Selic Marcelo: Das habe ich in meinem Namen gesagt. Die Wahlen haben doch gezeigt, dass die Mehrheit findet, dass alles in Ordnung ist. In diesem Sinne ist dies mein Land und wird es immer sein – aber es ist nicht mein Staat. Der gegenwärtige Staat ist wie ein Parasit in meinem Land. Ob ich glaube, dass diese Organisation absolut gegen die Bürger arbeitet? Ja, leider. Haben die Bürger allerdings etwas dagegen? Leider nein. Jedenfalls nicht die Masse.

Auf dem Marcelos Konzert in Wien konnten die Fans sein Buch „Malterego” kaufen. (FOTO: Albin Melez)

Das Lied „JBG” hat die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit auf die grundlegenden Probleme der Gesellschaft gerichtet, die sich hinter den meisten Allgemeinplätzen unseres Volkes verbergen, wie etwa der Mangel an Verantwortlichkeit, der Nationalismus, der ausschließliche Individualismus oder der persönliche Profit. Wie weit geht die Verantwortung des Staates und ab wann sind wir selber verantwortlich für das, worin wir leben?
Marko Selic Marcelo: Das Lied handelt genau davon, dass wir unsere Verantwortung zum größten Teil ablehnen und dass auch der Staat sie abgelehnt hat. Wir können uns auf bizarre Weise amüsieren, indem wir darüber nachdenken, welche dieser beiden Unverantwortlichkeiten für die Entstehung der anderen verantwortlich ist, nach dem Prinzip Henne oder Ei. Aber beide bestehen. Allerdings ist die Welt als solche in keinem guten Zustand, das liegt nicht nur an uns. Der Nationalismus ist schon seit Jahren ein wachsendes Phänomen in sehr vielen Ländern. Wie der Schriftsteller Miljenko Jergović kürzlich bei einer Diskussion gesagt hat, an der wir gemeinsam teilgenommen haben: Wenn die Welt zum Teufel geht, liegt darin nur ein Trost: dass das nicht unser hausgemachtes balkanisches Problem ist. Und tatsächlich kann man uns nur schwer vorwerfen, heute die einzigen Verrückten zu sein. Die Frage der (Un-)Verantwortlichkeit für die Zukunft kann man vielen Menschen stellen. Wenn zum Beispiel Putin den Ausdruck „JBG” kennt, wette ich, dass er ihn dieser Tag oft benutzt, zumindest im Stillen. Aber das darf keine Ausrede für unsere lokalen Probleme sein, keinesfalls, aber es ist auch nicht ganz losgelöst davon.

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