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DOPPELTE DISKRIMINIERUNG

Wie ist es, mit fast 70 in Serbien schwul zu sein?

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Foto: (iStock/Cloud-Mine-Amsterdam)

Radovan ist 62 Jahre alt und lebt in Serbien. Er ist ein leidenschaftlicher Fan des serbischen Fußballs und sagt, er habe keine Nationalmannschaftsspiele versäumt. Die liebsten Menschen in seinem Leben sind die Tochter seiner Schwester und ihr dreijähriger Sohn. Er hat keine feste Anstellung und geht für mehrere Monate im Jahr ins Ausland, um mit „Landsleuten“ auf dem Bau zu arbeiten. Doch wie die serbische BBC schreibt, erwähnen weder die Schwester, noch ihre Tochter, noch die Landsleute sein Geheimnis – dass er schwul ist.

„Ich bin einer dieser Onkel, die nie geheiratet haben“, sagte Radovan der serbischen BBC gegenüber und fügte hinzu wie jeder im Dorf der Reihe nach vermutet, dass er „es“ ist, aber dass niemand das Wort ausgesprochen hat – schwul.

Wie Zorica Mrsevic, Gender-Soziologin und Juristin, erklärte, wurde Radovan in Serbien doppelt diskriminiert, und zwar weil er schwul ist und in sein siebtes Jahrzehnt eingetreten ist. „Während man jung und gesund ist, kämpft man irgendwie mit dem Stigma und den Einschränkungen, die man als schwuler Mensch empfindet. All das häuft sich im Alter an, es wird schwieriger, der Freundeskreis wird kleiner und das Unterstützungsnetzwerk nimmt ab“, sagte Mrsevic.

Weniger als drei Prozent der LGBT-Personen in Serbien haben jemanden, auf den sie sich verlassen können – Familie, Partner, Freunde – um die grundlegenden Lebensbedürfnisse nach Wohnen, Arbeiten und Essen zu decken, bestätigen die Daten von Labris, einer serbischen Organisation für Lesbenrechte.

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FOTO:(iStock/william87)

In den letzten Jahren hat Serbien auch einen Anstieg der Armut unter den ältesten Bürgern verzeichnet und sogar bis zu 60 Prozent der älteren Population glaubt, dass sie in der Gesellschaft nicht gleichgestellt sind, so der Jahresbericht der Gleichstellungsbeauftragten.

Obwohl Serbien mehrere friedliche Regenbogenparaden organisierte und kurz davor stand, im Jahr 2021 das Gesetz über gleichgeschlechtliche Partnerschaften zu verabschieden, ist es wahrscheinlicher, dass sich Mitglieder der LGBT-Gemeinschaft, die nicht in Belgrad leben, sowie ältere Menschen bei ihren Familien und Freunden nicht geoutet haben, sagt die Soziologin. „Wahrscheinlich werden sie das nie, sie werden für immer als Außenseiter leben“, fügte Mrsevic hinzu.

Während der Coronavirus-Pandemie sei „die ältere LBGT-Bevölkerung besonders gefährdet“, sagt Aleksandra Gavrilovic aus Labris. „Homosexuelle Menschen sind einem erhöhten Risiko von Einsamkeit, Vernachlässigung, Armut, Arbeitslosigkeit, schlechter Gesundheit ausgesetzt“, fügt Gavrilovic hinzu und kommt zu dem Schluss, dass sich ihr Zustand mit zunehmendem Alter nur verschlimmert.

Radovans Bedingung für das Interview mit der BBC-Reporterin war, dass sie ihn niemals nach seinem richtigen Namen fragen würde, in welcher Stadt er lebt sowie nach dem Dorf, aus dem er kommt. Das Gespräch sollte zudem am Telefon stattfinden, indem sie ihm ihre eigene Nummer gibt, damit er sie von einer Karte aus anruft, die später deaktiviert wird. Radovan war es also sehr wichtig, dass ihn niemand entdeckte.

„Ich würde meinen Akzent ändern, aber das Dorf in uns selbst können wir nicht verstecken, auch nicht mit der Sprache“, scherzte er. Es gelang ihm, zumindest für eine gewisse Zeit aus dem Dorf zu fliehen, um im Ausland zu arbeiten, wo er, wie er sagte, erste gleichgeschlechtliche sexuelle Erfahrung machte. Davor hatte er in seiner Jugend mehrmals Sex mit einer Frau, aber er sagte: „es war keine Liebe“.

Radovan erklärte, dass er mit ungefähr 16 Jahren schnell gemerkt habe, dass er sich nicht zu Mädchen hingezogen fühle, aber er habe zuerst nicht verstanden, was mit ihm passiert. Das letzte Mal hatte er eine Beziehung mit einer Frau im Alter von 23 Jahren und das erste Mal mit einem Mann – erst drei Jahrzehnte später.

„In der Zwischenzeit … ist es bloß Einsamkeit, was sonst“, erklärte er.