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WIENWOCHE

,,Das System zwingt die Menschen, ihren Weg zu finden, indem sie nebenbei ’schwarz arbeiten'“

(FOTO: zVg. Marisel Bongola)

INTERVIEW WIENWOCHE . KOSMO hat mit Jelena Micić, der künstlerischen Leiterin, und Nataša Mackuljak, der Geschäftsführerin des bekannten Wiener Festivals WIENWOCHE, gesprochen. Neben des Balkanduo eine wichtige Rolle als Kuratorin im Jahr 2022 spielt Deniz Güvensoy. Micić und Mackuljak haben uns verraten, wie der Kampf der Kunst um wichtige gesellschaftliche Prozesse, die uns heute betreffen, aussieht, aber auch, wie es ist, als Frau Künstlerin zu sein.

KOSMO: Wie kämpfen Sie mit Ihrer Kunst für Randgruppen?

Jelena Micić: Ich glaube, hier muss man sagen, dass ich mich nicht für oder wegen Randgruppen mit Kunst beschäftige, sondern als selbst marginalisierte Person. Meine künstlerische Arbeit gründet sich auf meine eigene Arbeitserfahrung als Nicht-Bürgerin aus einem sogenannten Drittstaat in Österreich. Da ich auf keiner Ebene wahlberechtigt bin, ist das Festival WIENWOCHE die einzige Gelegenheit, Kulturpolitik zu machen, und zwar durch die Verbindung von Kunst und Aktivismus.

Nataša Mackuljak: Unseren Kampf könnte man durch das Festival selbst und seine Definition erklären. Das können auch wir beide bestätigen. Ich persönlich beschäftige mich in meiner künstlerischen Praxis und durch meine eigene Erfahrung mit der Positionierung der Künstlerin, der Migrantin, der Frau in der österreichischen Gesellschaft und mit den Diskriminierungsniveaus, denen diese Position ausgesetzt ist. In einer meiner Performances erzähle ich mit Ironie und Parodie, warum eine ausländische Künstlerin niemals und in keinem Theater eine Hauptrolle bekommen kann und wie sie für sich selber Hauptrollen erfindet und sich in bekannte Stars verwandelt, wie ihr dann aber bewusst wird, dass sie sich gerade bei der MA35 befindet und dass ihre Realität eine ganz andere ist. Jelena und ich sind ja Zeuginnen all dieser Dinge.

KOSMO: Wie schwer ist es für Ausländer, und vor allem für Frauen, am Balkan und in Wien Führungspositionen einzunehmen?

Jelena: Fast unmöglich. Für uns ist ein bestimmtes Spektrum an Arbeiten vorgesehen und der Versuch, aus dieser Box auszubrechen, ist in den meisten Fällen strafbar. Die Zahl der Einwohnerinnen vom sogenannten Westbalkan steht in keinem Verhältnis zur Repräsentation dieser Gemeinschaft in den politischen und kulturellen Strukturen. Auf der anderen Seite ist es schwer zu definieren, wer eigentlich Ausländer/Ausländerin ist und wer nicht. Es gibt Menschen, die österreichische Staatsbürger/innen sind, die aber allein deswegen im System keinen Platz haben, weil ihre Eltern oder die Eltern ihrer Eltern als GastarbeiterInnen hierhergekommen sind. Hier muss man auch erwähnen, dass sich das nicht nur auf die Region bezieht, aus der wir stammen, sondern dass viele Gemeinschaften noch größere Probleme haben, und mit denen sollte man in noch engerem Kontakt sein.

Jelena Micic
(FOTO: zVg. Marisel Bongola)

Nataša:  Ja, fast undenkbar. Nur wenige Institutionen, die auf irgendeine Weise Veränderungen in der Gesellschaft vorantreiben und vorleben, sind offen dafür, diese Möglichkeit zu bieten. Hier muss man sagen, dass es für uns, die wir die Möglichkeit erhalten haben, so eine Position einzunehmen, eine Verpflichtung ist, in dieser Richtung weiter zu arbeiten.

KOSMO: Wenn wir von Diskriminierung reden: Wo liegt das größte Problem dieser Gesellschaft?

Jelena: Ich glaube, dass die Diskriminierung systematisch ist und in alle Aspekte des Lebens reicht. Vor allem zeigt sie sich darin, dass der Zugang zum Arbeitsmarkt für den Teil der Länder, die nicht Mitglied der Europäischen Union sind, beschränkt ist.

Nataša: Ich würde noch hinzufügen, dass die Diskriminierungssysteme schon aus uralten oder auch nicht ganz so alten Zeiten stammen. Historisch haben wir da die Frage der Kolonien und der Reiche, die noch heute auf ähnliche, aber weniger sichtbare Weise weiterwirken. Wir leben in der Zeit des sogenannten Postkolonialismus oder nach neueren Theorien in der Zeit der Kolonialität, wo das System der Beherrschung und Kontrolle des einfachen Mannes über den Neoliberalismus oder den Kapitalismus läuft, und das nicht nur mit Bezug auf das alltägliche Leben einer Person, sondern sogar bezüglich seines oder ihres nackten Lebens und Todes. Die Kontrolle über das Leben und den Tod einer Person erfolgt über verschiedene Regimes wie das Visaregime, das Regime der Kriege und damit auch das der Migration, des Asyls, der Gesundheit einer Person usw.

Natasa Mackuljak
(FOTO: zVg. Marisel Bongola)

KOSMO: Mit welchen Problemen ist die Arbeiterklasse heute konfrontiert?

Jelena: Wir erklären uns bewusst dazu bereit ausgebeutet zu werden, denn wir brauchen die Arbeit. Es gibt niemanden, der in unserem Interesse arbeitet, obwohl die wichtigsten Arbeiter/innen die ganze Gesellschaft auf ihren Schultern tragen. Sie werden kritisiert, weil sie den Bürger/innen Stellen wegnehmen, und zwar genau die Stellen, die niemand will, weil sie sehr schlecht bezahlt sind. Zum Überleben sind wir bereit, unmögliche Arbeitsbedingungen zu akzeptieren, die unsere Gesundheit und unsere Freizeit beeinträchtigen und uns daran hindern, reflektierte Entscheidungen für unser Wohlergehen zu treffen, und das ist vor allem Organisation.

KOSMO: Wie sehr werden unsere Landsleute, die nach Österreich gekommen sind, um hier zu arbeiten und sich etwas aufzubauen, hier marginalisiert und diskriminiert?

Jelena: Wir werden auf nationaler, geschlechtlicher und sonstiger Basis auf bestimmte Berufe reduziert und haben keine Möglichkeit aufzusteigen. Das System zwingt die Menschen, ihren Weg zu finden, indem sie nebenbei „schwarz arbeiten“.

Nataša: Am schwersten ist es, wenn du in ein Land kommst, wo du dein Leben von Null neu anfangen musst, wo deine Kenntnisse und Erfahrungen nicht gleichgestellt werden mit den Kenntnissen und Erfahrungen der lokalen Bevölkerung. Es dauert viele Jahre und du musst viele systematische Diskriminierungsniveaus durchlaufen (angefangen vom Visaregime über das AMS bis zur Anerkennung des Diploms usw.), um, wenn überhaupt, den Platz zu bekommen, den du verdienst. Das hat auch mit der sogenannten „Integration“ zu tun, die noch immer als Einbahnstraße verstanden wird. Die Ausländerin oder der Ausländer ist diejenige/derjenige, der sich „anpassen“ und integrieren muss, was meiner Meinung nach ein sehr veraltetes Prinzip ist. Österreich ist von jeher ein Staat gewesen, der von Bürgerinnen und Bürgern aus der übrigen Welt bzw. anderen Welten gebildet und aufgebaut wurde, und der Prozess der Integration sollte in mehrere Richtungen verlaufen und offen und mit einer Willkommenspolitik verbunden sein.

Deniz Güvensoy und Jelena Micic
(FOTO: zVg. Marisel Bongola)

KOSMO: Wie sehr können sich eigentlich der Arbeiter oder die Arbeiterin mit ökologischen Fragen beschäftigen, d.h. wie viel Zeit haben sie, sich um diese Fragen zu kümmern?

Jelena: Unser diesjähriges Thema will genau auf diese ökonomischen Gründe hinweisen, aufgrund derer man davon ausgeht, dass gerade die Arbeiter/innen die sind, die auf der einen Seite einen negativen Einfluss auf die Umwelt ausüben und die andererseits auch von den Klimaveränderungen am stärksten betroffen sind. Nehmen wir als Beispiel die Frage, wer Bioprodukte und wer importierte Billigwaren kauft. Und da geht es nicht darum, dass die einen keine gesunden Lebensmittel essen wollen, sondern darum, ob sie sie sich leisten können. Die Klimaveränderungen treffen vor allem die ärmsten Teile der Bevölkerung, darunter auch die Frauen. Man muss Wege finden, nicht nur Wirtschaftsflüchtlinge, sondern auch Klimaflüchtlinge in die europäischen Gesellschaften zu integrieren, und zwar auf einem gleichberechtigten Niveau.

KOSMO: Wie können wir Ihrer Meinung nach das Bewusstsein der Menschen hinsichtlich der Diskriminierung und Prekarisierung verschiedener gesellschaftlicher Gruppen verändern?

Jelena: Ich glaube, da gibt es Wege: Wahlrecht auf allen Ebenen, freier Zugang zum Arbeitsmarkt, kostenlose Ausbildung bzw. Stipendien für Kinder aus Arbeiterfamilien.

All das beginnt mit der Organisation und der Vereinigung des Kampfes, den nicht nur die Menschen aus unserer Region führen, sondern auch all jene, die ähnliche Erfahrungen mit uns teilen.

Nataša: Ich stimme Jelena zu. Die Zusammenführung der verschiedenen Kämpfe ist entscheidend, und das machen wir mit unserer Arbeit für die WIENWOCHE. Wir geben den Unsichtbaren einen Raum und eine Stimme, öffentlich in ihrer Sache zu sprechen.

Die WIENWOCHE ist ein Wiener Festival, das auf verschiedenen Ebenen, in verschiedenen Formaten und in verschiedenen Facetten der Kunst und gesellschaftlicher Strömungen mit der Verschmelzung kreativer Praktiken mit Aktivismus experimentiert. Seit seiner Gründung 2012 findet die WIENWOCHE jedes Jahr im September statt. Dieses Festival sieht die Kulturarbeit als Engagement in gesellschaftlichen, politischen und kulturellen Debatten und verfolgt das Ziel, sie sichtbar zu machen und voranzutreiben. Die WIENWOCHE will die Grenzen der kulturellen und künstlerischen Praktiken erweitern und sie allen gesellschaftlichen Gruppen, die in Wien leben, zugänglich machen. Das Festival wird von dem unabhängigen „Verein zur Förderung der Stadtbenutzung“ veranstaltet.