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REPORTAGE

30 gerettete Leben: Renato Grbić – Belgrads Superman

Renato: „Unfälle auf dem Wasser sind anders als zu Lande. Hier ist das ein Kampf 1:1. Die Donau ist gefährlich, die Donau ist unbarmherzig, die Donau nimmt, was sie will.“ (FOTO: Nemanja Milatovic)

Und während wir gebannt dasitzen, schockiert von der Geschichte und beeindruckt von Renatos Menschlichkeit, setzt der 57-jährige Fischer seine Erzählung mit dem Jubiläum seiner 30. Lebensrettung fort. „Vor fünf Monaten habe ich einen 28-jährigen Burschen gerettet. Er stand mitten auf der Brücke und sprang mit dem Kopf voran ins Wasser. Ich erhielt einen Anruf von der Polizei, dass jemand gesprungen sei, und sprang sofort in mein Boot. Ich hatte ein wenig Angst, denn die Nacht ist etwas ganz Besonderes. Man weiß nie, wen man trifft, mit wem man es zu tun hat und was er bei sich hat. Es besteht die große Wahrscheinlichkeit, dass er versuchen wird, auch mich zu verletzen, denn wenn ihm an seinem Leben nichts liegt, warum sollte ihm dann an meinem etwas liegen? Sobald ich mit dem Boot unterwegs war, hörte ich aus der Ferne Hilfeschreie. Das war ein Zeichen, dass er es sich anders überlegt hatte. Als ich ihn erreichte, griff er sofort nach dem Boot und kletterte hinein. Es war ein sehr schöner, gutaussehender Bursche. Ich fragte ihn, welche Probleme er so jung schon habe. Er sagte, dass er gegen eine innere Angst ankämpfte und persönliche Probleme habe. Er erklärte mir, dass er einen Kopfsprung gemacht habe, weil er auf die Stahlkonstruktion der Brücke aufschlagen und sofort tot sein wollte.“

Auf die Frage, ob die Menschen ihm dankbar sind, weil er ihnen das Leben rettet und ihnen eine zweite Chance gibt, die sonst kaum jemand bekommt, antwortet Renato: „Mit zwei Menschen bin ich noch im Kontakt: mit einem Mädchen, das bei seinem Selbstmordversuch 18 Jahre alt war. Ich war sogar auf ihrer Hochzeit und vor kurzem hat sie ein Kind bekommen. Sie hat gelernt, dass das Leben schön ist. Bei dem anderen Mädchen, das 16 Jahre alt war, war ich bei der Party zu ihrem 18. Geburtstag und bei der Maturafeier. Mit den anderen Menschen habe ich keinen Kontakt. Ich würde sie gerne sehen, um zu erfahren, ob sie noch am Leben sind. Ich fordere keine Dankbarkeit. Mir ist wichtig, dass sie ins Leben zurückkehren und dass sie ihre zweite Chance nutzen, denn oft sagt man, dass Menschen, die einmal versuchen sich umzubringen, das beim zweiten Mal wirklich schaffen.“

FAMILIE. „Sie sollte Probleme als Erstes erkennen.“

„Es gibt nur ein Leben und keine Wiederholung“
Nachdem er Menschen aus dem Strudel des Todes gerettet hat, spricht Renato mit ihnen, und die Gründe für die Selbstmordversuche sind besorgniserregend. „All diese Menschen, die sich töten wollen, schließen das, was sie wollen, mit diesem Sprung von der Brücke ab. Aber wenn sie im kalten Wasser zu sich kommen, wenn sie wieder auftauchen, dann setzt ihr Überlebenswillen ein. Sie fühlen den Drang zu atmen, wenn die Luft knapp wird, und natürlich bereuen sie ihre Tat, wenn sie wieder auftauchen, und suchen Rettung. Mit ihnen gibt es in diesem Moment nicht viel Kontakt. Man könnte sagen, es gibt ein Bild, aber keinen Ton. Besorgniserregend ist, dass unter ihnen viele junge Menschen von 14, 15 oder 16 Jahren sind, die sich das Leben nehmen wollen. Ich habe jeden von ihnen gefragt, mit welchen Problemen so junge Leute konfrontiert sein können, und habe ihnen gesagt, dass die echten Probleme erst später kommen, wenn der echte Überlebenskampf beginnt. Bei den Jungen ist das häufigste Problem eine unerwiderte Liebe oder Probleme mit Freunden. Ein Mädchen, das 16 Jahre alt war, wollte sich töten, weil ihr Vater bei einem Verkehrsunfall gestorben war. Anschließend war auch ihr bester Freund gestorben und einige Jahre später der Stiefvater, den die Mutter danach geheiratet hatte. Und weil sie in diesem so empfindlichen Alter alle verloren hatte, die sie liebte, versuchte sie, sich das Leben zu nehmen. Mit ihr bin ich im Kontakt geblieben. Heute ist sie glücklich verliebt, hat ein Stipendium für ihre Ausbildung bekommen und ihr erstes Buch herausgegeben.

Aufgrund all dieser Fälle meine ich, dass es die Familie sein sollte, die die Probleme ihrer Mitglieder als erstes erkennt, ihnen gut zuredet oder sie rechtzeitig in ärztliche Behandlung bringt. Ich glaube, dass man auf diese Weise mindestens 50 % der Selbstmordfälle verhindern könnte. Es gibt nur ein Leben und keine Wiederholung. Es ist voller Herausforderungen, Unglück, Schönem und Schlimmem, und das ist immer so. Wir alle haben Probleme und alle Probleme sind lösbar, wenn wir sie nur lösen wollen. Ratschläge der Älteren sind da sehr wichtig, und man muss den Moment erkennen, in dem jemand Hilfe braucht. Ein freundliches Wort öffnet selbst eiserne Tore. Im Gespräch kann man vieles lösen. Die Menschen müssen mehr zusammenkommen und miteinander reden. Einsamkeit ist nie gut. Vieles ist schöner und leichter, wenn man unter Menschen ist.“ Was Renato definitiv aus diesen Geschichten gelernt hat, ist, dass er das Leben mehr zu schätzen weiß und mehr auf sich achtet.

„Im Gespräch kann man vieles lösen. Die Menschen müssen mehr zusammenkommen und miteinander reden.“ (FOTO: Nemanja Milatovic)

„Es ist, als wäre mir ein drittes Auge gewachsen, mit dem ich alles, was ich bisher nicht bemerkt habe, beobachte und verfolge. So beobachte ich die Brücke ständig, bewusst oder unbewusst. Brücken sind ein Symbol für Verbindungen zwischen Menschen und Ufern, aber diese Pančevo-Brücke ist für mich ein Symbol für das Unglück geworden, in dem die Menschen versuchen, sich das Leben zu nehmen.“ Auf die Frage, ob diese Selbstmordversuche etwas über unsere Gesellschaft aussagen, sagt Renato, dass es überall in der Welt eine gewisse Selbstmordrate gibt und dass diese Fälle nichts mit der Mentalität zu tun haben, sondern mit der menschlichen Natur im Allgemeinen. „Hier sind vielleicht die Armut und die Krise ein Problem, denn man verliert die grundlegende Menschenwürde und lebt sehr schwer“, betont unser Gesprächspartner, aber er fügt hinzu, dass die Belgrader es manchmal nicht zu schätzen wissen, dass sie am Zusammenfluss der beiden schönsten und wichtigsten Flüsse Europas leben.

„Am wichtigsten ist es, Mensch zu bleiben“
Renato hat für seine Heldentaten verdientermaßen mehrere Auszeichnungen und Preise der Stadt Belgrad und der Republik Serbien erhalten. „Neben der Auszeichnung als ‚Naj Beograđanin‘ (‚belgradigster Belgrader‘) habe ich auch einen Ehrenpass bekommen und eine Auszeichnung für Heldentaten von der Stadtversammlung, eine für mein Engagement und meine Menschlichkeit von meiner Gemeinde und den Orden ‚Miloš Obilić“, der die Krönung all dessen ist, was ich gemacht habe. Jeden Tag habe ich Gäste, die über mich gelesen haben und kommen, um mich kennenzulernen. Diese Gesten bedeuten mir viel, denn sie schaffen eine schöne und positive Energie. Aber für mich ist es doch am schönsten, dass ich einfach Mensch bin. Man muss Mensch sein und bleiben und sonst gar nichts. Unglücksfälle zu Wasser sind anders als an Land. Hier ist das ein Kampf 1:1. Die Donau ist gefährlich, sie ist erbarmungslos, sie nimmt sich, was sie will. Wenn niemand in der Nähe des Ertrinkenden ist, dann können ihn die Panik, das kalte Wasser, der unglückliche Fall, die Kleidung, die sich mit Wasser vollsaugt, Schiffe, die vorbeifahren, in kürzester Zeit töten.“, schließt Renato.

RENATO. „Mein Name bedeutet auf Lateinisch ‚zweite Chance‘.

Uns hat noch interessiert, was für ein Gefühl es ist, jemandem das Leben zu retten. „Es ist auf jeden Fall schön, ein Leben zu retten. Man sagt, wenn man nur einen Menschen rettet, dann hat man die ganze Welt gerettet. Ich fühle mich dadurch gesegnet. Im ersten Moment, wenn ich sehe, dass jemand gesprungen ist, schießt bei mir das Adrenalin ein und ich habe das Gefühl, als wollte das Herz aus meiner Brust springen. Das ist keine Angst, sondern der Wunsch und die Sorge, rechtzeitig zu kommen. Und wenn ich zu der Person komme und sie rette, fühle sich mich, als hätte ich ein Beruhigungsmittel genommen. Dann tritt dieses Gefühl ein, gesegnet zu sein.“

Schicksal
Wenn jemand eine solche aufregende und nicht alltägliche Lebensgeschichte hat wie Renato, müssen wir einfach fragen, ob er glaubt, dass das Schicksal das so für ihn bestimmt hat. „Ich glaube, dass mein Schicksal mit drei Dingen verbunden ist, d.h. mit drei Ereignissen in meinem Leben: Zuerst bedeutet mein Name in seiner lateinischen Version ‚Renatus‘ der Wiedergeborene oder Neugeborene. Darum glaube ich auch, dass ich den Leuten eine zweite Chance gebe, wenn ich ihnen das Leben rette. Ob sie sie nutzen oder nicht, das liegt dann an ihnen. Als Zweites ist mein Familienpatron der hl. Nikolaus, der der Schutzpatron der Menschen auf den Flüssen und Meeren ist, vor allem der Fischer, und drittens war der Erste, den ich von der Brücke habe springen sehen, Branko Ćopić. Es war, als hätte an dem Abend mein Schicksal als Lebensretter begonnen. An diesem Abend saß ich mit dem Mädchen, mit dem ich damals ging, unter der Brücke und auf einmal kam die Polizei. Damals wusste ich noch nicht, um wen es ging, aber später hörte ich, dass Branko gesprungen und auf den Beton aufgeschlagen war. Da war der Tod unausweichlich. Ich verbinde diese drei Dinge und fühle, dass es meine Mission ist, Menschen zu retten.