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GESUNDHEIT

ADHS – eine Diagnose, die Angst macht

(Foto: iStock/dragana991)

Früher wurden hyperaktive, impulsive und unaufmerksame Kinder einfach als unruhig bezeichnet. Heute haben wir eine Diagnose, die oft zu schnell und zu leichtfertig gestellt wird, ohne dass man oft sicher ist, ob es sich tatsächlich um eine Krankheit oder vielleicht nur um eine Ausrede für mangelnde Aufmerksamkeit handelt.

ADHS ist der Definition zufolge eine Entwicklungsstörung, die sich im Unvermögen äußert, das eigene Verhalten zu kontrollieren. Leider gehört sie zu den häufigsten Störungen, die bei Kindern festgestellt werden, und die Diagnose beruht auf drei Symptomen: Hyperaktivität, Impulsivität und ein Aufmerksamkeitsdefizit. Die Symptome bestehen dabei permanent, das bedeutet, dass das Kind seine Entwicklungsstörung ständig zeigt. Natürlich eckt es damit in seiner Umgebung an: in der Familie, im Kindergarten, in der Schule und sogar später im Erwachsenenalter am Arbeitsplatz oder im Freundeskreis. Da viele Eltern ihre aufgeweckten Kinder mit Sorge betrachten, haben wir bei Frau Dr. Vesna Budic Spasic angeklopft, einer Allgemeinmedizinerin und ständigen Beraterin des Magazins KOSMO.

KOSMO: Frau Doktor, welche Symptome des ADHS-Syndroms nimmt man normalerweise als Erstes wahr?

Dr Vesna Budic Spasic: „Hyperaktivität und Impulsivität äußern sich in einer ständigen Unruhe, in permanentem Herumlaufen, Zappeln, Herumklettern auf Möbelstücken, Redseligkeit, im Unterbrechen anderer, dem unzeitigen Herausschreien von Antworten und der Unfähigkeit zu warten. Die motorische Unruhe und die fehlende Verhaltenskontrolle sind sehr ausgeprägt und dominant. Von solchen Kindern sagte man früher, sie hätten ,,Ameisen im Hintern“, aber man hielt sie nicht für krank. Die Kinder bewegen oft ihre Hände, kippeln mit den Stühlen, auf denen sie sitzen, treten mit den Füßen gegen den Tisch vor sich und können sich nicht ruhig beschäftigen.“

Der Mangel an Aufmerksamkeit ist auffällig, das Kind hört nicht darauf, was ihm gesagt wird, verliert Dinge, beendet Aufgaben nicht, vermeidet anspruchsvolle Tätigkeiten, hat eine schwache Merkfähigkeit und vergisst viel, möchte aber immer im Zentrum der Aufmerksamkeit stehen.

KOSMO:In welchem Alter werden die Symptome sichtbar?

Dr Vesna Budic Spasic: „Die Störung wird meistens nach dem Schulbeginn bemerkt oder sogar diagnostiziert, wenn das Kind mit der Schulklasse und mit Pflichten konfrontiert ist. Was zu Hause üblich war, wird in das Schulumfeld übertragen. Das Auftreten des auffälligen Verhaltens zu Hause und auch in der Schule, d.h. in mindestens zwei verschiedenen Milieus, ist ein wichtiges Kriterium für die Diagnose. Das Herumspringen auf Möbeln wird zum Herumspazieren im Klassenraum während des Unterrichts und zur Störung des Stundenablaufs. Die Konzentration auf den Stoff, den es zu lernen gilt, ist unmöglich. Das Kind spürt einen permanenten Bewegungsdrang, sucht unablässig nach neuen Beschäftigungen, die es aber dann doch nur kurz interessieren. Aufgrund dieses Verhaltens erzielen die Kinder in der Schule schwächere Ergebnisse, obwohl sie sogar überdurchschnittlich intelligent sein können.“

KOSMO: Bestehen Unterschiede zwischen Kindern desselben Alters?

Dr Vesna Budic Spasic:„Bei Buben tritt die Störung vier- bis fünfmal häufiger auf als bei Mädchen, und sie hat auch unterschiedliche Symptome. Während die motorische Unruhe bei Buben ausgeprägter ist, sind Mädchen eher abwesend und unaufmerksam. Daher wird die Störung bei Buben oft früher festgestellt.“

In städtischen Milieus ist sie zudem häufiger als in ländlichen. Der Grund kann der übermäßige Aufenthalt in geschlossenen Räumen sein sowie auch eine Überlastung beider Eltern und ein ungenügender Kontakt mit anderen Kindern, zu geringe körperliche Auslastung und zu wenige Kontakte mit anderen Lebewesen, vor allem mit Haus- und Hoftieren.

KOSMO: Welche Symptome zeigen jüngere Kinder?

Dr Vesna Budic Spasic: „Einige Experten sind er Meinung, dass diese Störung bereits bei Babys erkennbar ist, die ohne Grund unverhältnismäßig viel weinen und schreien und eine normale Ernährung verweigern. Da sich Säuglinge in diesem Alter noch nicht bewusst verhalten können, handelt es sich dabei um eine leichte Übertreibung der medizinischen Analytiker, die manchmal vor lauter Bäumen den Wald nicht sehen. Im Vorschulalter wird die Störung seltener bemerkt, denn die Kinder werden meistens mit ihrem Alter entschuldigt – sie sind ja noch klein! Wenn den Eltern die Ansprüche der Kleinen zu viel werden, nehmen sie Zuflucht zu elektronischen Problemlösungen, d.h. sie kaufen leuchtende und blinkende Spielzeuge oder opfern einfach ihr Handy, das die Situation sehr effizient beruhigen kann. Natürlich nicht für lange, aber jede Pause ist sehr willkommen. Und auf diese Weise tragen sie selber zum Fortschreiten der unerwünschten Symptome bei.“

KOSMO: Wie beeinflusst ADHS die Entwicklung von Jugendlichen?

 Dr Vesna Budic Spasic: „Die Pubertät und Adoleszenz folgen ganz besonderen Gesetzen, wenn die Störung nicht behandelt oder gegebenenfalls durch die Erziehung verbessert wird. Oft kommt es dann zu einer emotionalen Labilität, Reizbarkeit, Depressivität und Ängstlichkeit. Die jungen Leute können in bestimmten Situationen sogar aggressiv werden, was ihr Verhältnis zu den Altersgenossen beeinträchtigen kann. Möglicherweise werden die Jugendlichen ausgeschlossen, entwickeln dadurch Minderwertigkeitsgefühle und fühlen sich abgelehnt und unsicher. Sie verlieren ihre Selbstachtung und ihr Selbstvertrauen. Und das wiederum führt sehr oft zu sozial unangemessenem Verhalten, Delinquenz und Suchterkrankungen.“

(Foto: iStock/KatarzynaBialasiewicz)

KOSMO: Weisen die geschilderten Symptome ausschließlich auf ADHS hin oder kann ihnen auch etwas anderes zugrunde liegen?

 Dr Vesna Budic Spasic: „Bei der Diagnosestellung sollte man genau untersuchen, ob es sich tatsächlich um ein psychisches Problem handelt oder ob sich dahinter nicht eine körperliche Störung wie die Kryptopyrrolurie verbirgt, die von einem Mangel an Vitamin B6 und Zink hervorgerufen wird. Der Laborbefund einer Urinprobe kann die Situation klären und die Grundlage für eine Substitutionstherapie mit den fehlenden Komponenten bilden. Andernfalls hat eine Psychotherapie oder eine andere Form von Verhaltenstherapie, die die Jugendlichen in die richtige Richtung leitet, großes Potential. Wenn es gelingen soll, die Störung rechtzeitig zu behandeln und zu heilen, sollte man alles unternehmen, bevor der Zustand als definitiv und unveränderlich gelten muss. Die Medikamente, die hauptsächlich bei ADHS indiziert sind, sollte man noch nicht bei den ersten Symptomen einführen. Vielleicht ist das Kind doch nur übermütig oder es fehlen ihm die Eltern, weil sie von ihren eigenen Verpflichtungen allzu sehr in Anspruch genommen sind. Hochtrabende moderne Erklärungen sind oft nur ein Ersatz für einen Mangel an klassischer Autorität der Eltern und Lehrer. Vielleicht ist die beste Therapie doch, sich in den Momenten, in denen er es am meisten braucht, etwas mehr mit dem kleinen „Tyrannen“ zu beschäftigen.