Nebojša Slijepčevićs minimalistisches Meisterwerk „Čovjek koji nije mogao šutjeti“/“Der Mann, der nicht schweigen konnte“ ist für den diesjährigen Kurzfilm-Oscar nominiert worden. Der Streifen des Zagreber Regisseurs behandelt die Entführung und Ermordung von Tomo Buzov durch serbische Paramilitärs im Februar 1993. Hier könnt ihr den Film sehen.

Tomo Buzov konnte nicht schweigen am 27. Februar im Zug 671 von Beograd nach Bar.
Als serbische Paramilitärs den Zug illegal bei Štrpic in Bosnien anhielten und Muslime aus dem Zug holten, stand der pensionierte Offizier der JNA auf und fragte, mit welchem Recht die Männer die Ausweise der Passagiere kontrollierten und einzelne aus dem Zug holten.
Als ihn die Paramilitärs zwangen, gemeinsam mit den muslimischen Passagieren auf einen Lastwagen zu steigen, war es das letzte Mal, dass Tomo Buzov lebend gesehen wurde.
(Mehr über die Ereignisse könnt ihr hier nachlesen.)
Meisterhafte minimalistische Inszenierung
Nebojša Slijepčević erzählt in seinem 13 Minuten langen Kurzfilm „Čovjek koji nije mogao šutjeti“/“Der Mann, der nicht schweigen konnte“ die Ereignisse aus der Perspektive von Dragan. Der Passagier, gespielt von Goran Bogdan, sitzt zufällig im gleichen Abteil wie Tomo Buzov.
Ihm gegenüber ist der junge Milan, der sagt, dass er keine Papiere hat. „Mach dir keine Sorgen“, sagt ihm Dragan, während man Stimmen hört, die nach Ausweisen verlangen und mittlerweile vereinzelt Menschen aus dem Zug entführen.
Nie verlässt die Kamera den Zug, nur kurz nimmt sie den Gang des Zugwaggons in den Blick. Das trägt zu beklemmenden Atmosphäre bei.
Warum wird gerade hier kontrolliert? Wer kontrolliert? Woher der Eifer? Wen oder was suchen die Leute, die die Ausweise kontrollieren?
Nichts davon wird je verbalisiert, bis ein bullig aussehender Mann in Uniform das Abteil betritt. Man sieht nur an Dragans und Milans Gesicht, dass ihnen diese Fragen durch den Kopf gehen. Dass Dragans Sicherheit, mit der er Milan beruhigen will, auch nur vorgespielt ist.
Erst, als der bullige Paramilitär von Dragan wissen will, was denn seine Slava sei und sogar nachfragt, an welchem Datum sie gefeiert wird, wird dem balkankundigen Zuseher klar, dass das keine normale Ausweiskontrolle ist. Hier soll sichergestellt werden, dass der Passagier, in diesem Fall Dragan, auch wirklich serbisch-orthodox ist, also ein ethnischer Serbe.
Hier wird auch klar, warum Milan so nervös ist. Sein Nachname ist Begović. Das ist ein typisch muslimischer Nachname.
Als ihn der bullige Paramilitär mit serbischem Akzent aus dem Zug holen will, hören wir das erste Mal den Mann, der nicht schweigen konnte.
Tomo Buzov, dargestellt von Dragan Mićanović, ist bislang in der Ecke gesessen, im toten Winkel der Kamera.
Detailgetreut und minimalistisch rekonstruiert Nebojša Slijepčevićs den Dialog von Tomo Buzov mit dem serbischen Paramilitär anhand von Zeugenaussagen.
Durch das Fenster am Gang des Waggons sehen wir, wie Buzov gemeinsam mit 19 weiteren Passagieren aus Zug 671 Beograd – Bar gezwungen wird, auf einen Lkw zu steigen.
Die Szene verschwindet aus dem Blickfeld, als der Zug losfährt.
Dragan zündet sich nervös eine Zigarette an.
Zu Recht für den Oscar nominiert
Die minimalistische Inszenierung macht die Nonchalance, mit der die serbischen Paramilitärs ihre Opfer selektieren und ermorden, die Passivität der Mitreisenden und Tomo Buzovs Zivilcourage auf eine Art und Weise deutlich, die sie auch für die verständlich macht, die nichts über den Krieg in Bosnien wissen, nichts über Kriegsverbrechen und Völkermord in den 1990-ern, und die weder von Tomo Buzov je gehört haben noch von Zug 617 Beograd – Bar.
Es ist ein Film über Mut im Angesicht des Unrechts. Eine Mahnung, dass wir alle nicht schweigen können sollten.
Nicht umsonst hat „Čovjek koji nije mogao šutjeti“ seit seiner Veröffentlichung im Vorjahr international für Aufsehen gesorgt.
Für 13 Auszeichnungen ist der Kurzfilm laut IMDBb bisher nominiert worden. Fünf hat er erhalten, unter anderem die Goldene Palme des Filmfestivals von Cannes und den European Film Award. Die Oscar-Nominierung ist zugleich Höhepunkt der wohlverdienten internationalen Anerkennung wie eine logische Folge der bisherigen Erfolge.
Man wünscht dem Film, seinem Regisseur und Drehbuchautor Nebojša Slijepčević, und allen Beteiligten, dass ihm diese höchste Ehrung der Filmwelt zuteil wird.
Noch mehr wünscht man sich freilich, dass dieser Film im Schulunterricht gezeigt wird. Nicht nur im ehemaligen Jugoslawien sondern in ganz Europa.
Eine ausführliche Kritik könnt ihr auf Lupiga lesen.
Balkan Stories, Christoph Baumgarten

Christoph Baumgarten ist Journalist und Balkanreisender aus Leidenschaft. Seit 2015 verbindet er beide Leidenschaften auf seinem Blog Balkan Stories. Dort versucht er, Geschichten zu erzählen, für die es in größeren Medien meist keinen Platz gibt und stellt die Menschen in den Mittelpunkt.
Mehr von Christoph könnt ihr unter balkanstories.net nachlesen.
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