In Bosnien werden am Sonntag Gemeinderäte und Bürgermeister gewählt. Die politische Klasse feiert die bevorstehenden Gemeinderatswahlen mit einer Orgie an Wahlwerbung, die selbst für österreichische Beobachter grotesk überdimensioniert erscheint. Das zeigt ein Streifzug durch Sarajevo.
Der schlimmste Feind von Dennis Gratz sitzt in seinem Wahlkampfteam.
Irgendwer muss dem Kandidaten der linksliberalen Demokratska Fronta ja eingeredet haben, dass es eine gute Idee ist, wenn sein Foto hundert Mal im Stadtzentrum angebracht ist.
Am Dom Sindikata, der Zentrale der bosnischen Gewerkschaften – dass Gewerkschaften Gebäudeflächen für einen Wahlkampf vermieten, noch dazu an eine liberale Partei, ist für sich schon ungewöhnlich – und an so etwa jeder Straßenlaterne zwischen der Reisa Džemaludina Čauševića und entlang der Obala Ban Kulena bis zur Vijećnica, Seitenstraßen wie die Radićeva eingeschlossen.
Wenn du eine Stunde lang durch das Stadtzentrum marschierst, kriegst du Aggressionen, wenn du nur an Dennis Gratz denkst.
Ob ihm das hilft, zum Bezirksvorsteher der Općina Sarajevo Centar gewählt zu werden, sei dahingestellt.
Dennis ist ein Extrembeispiel für die Orgie an Wahlwerbung, die sich über die Bürgerinnen und Bürger Bosniens ergießt.
Es gibt kaum eine Ecke, in der nicht Kandidatinnen und Kandidaten der einen oder der anderen Fraktion von einem Plakat oder Poster lächeln.
Gegenüber dem Dom Sindikata mit seiner Dennis Gratz-Orgie auf der anderen Seite der Miljacka etwa ist das Veranstaltungszentrum Skenderija.
Das Rätsel von Skenderija
Hier feiert sich die liberale Partei Naša Stranka mit zwei Mega-Plakaten. So etwas sieht man nicht oft.
Dennis war übrigens ein Mitbegründer von Naša Stranka. Vor Kurzem haben er und seine ehemalige Partei sich überworfen. Er wechselte zur Demokratska Fronta.
Ob das politisch im engeren Sinn war oder es nur um Karrieremöglichkeiten ging, lässt sich schwer einschätzen. Derartige und noch viel absurdere Parteienwechsel sind in der postjugoslawischen Politik an der Tagesordnung. Bosnien ist da keine Ausnahme.
Wie auch das rechte dieser Plakate am Dom Mladih bei der Skenderija zeigt, Neben der konservativ-nationalististischen Pravda i Narod und Naša Stranka hängt Werbung für eine Einheitsliste aus Pravda i Narod, Naša Stranka und der sozialdemokratischen SDP. Sie stellt den Spitzenkandidaten je einer Fraktion für einen von drei Stadtbezirken Sarajevos vor.
Das ist etwas verwirrend.
Wenn auch nicht viel verwirrender als die Plakate für die Liste Platforma Progres za Nove Generacije – Plattform Fortschritt für eine neue Generation.
Ein einziger der Kandidaten dieser Liste ist augenscheinlich unter 50.
Das unterstreicht nicht gerade den Anspruch, Politik für eine neue Generation zu machen.
In diesem Wahlvideo der Liste ist es ein wenig besser. Aber so wirklich neuegenerationsmäßig kommt Progres za nove generacije auch dort nicht rüber.
Dass das Video hier gepostet wird, ist ausdrücklich nicht als Wahlempfehlung zu verstehen.
Selbst wenn ich eine Liste empfehlen wollte, wüsste ich beim besten Willen nicht, welche. So gut kenn ich mich in der Stadtpolitik von Sarajevo im Speziellen und der Kommunalpolitik in Bosnien wirklich nicht aus.
Einzig in Banja Luka wüsste ich, wen ich als Bürgermeister wählen würde. Jeder, der mich kennt, weiß, dass das ein bestimmter unabhängiger Kandidat ist, über den hier des Öfteren berichtet wurde.
Öffi-Passagiere brauchen starke Nerven
Die Orgie an Wahlwerbung macht auch nicht vor dem Halt, was in den meisten westlichen Staaten Tabu wäre.
Auf praktisch jeder Straßenbahn- oder O-Bushaltestelle hängen Wahlplakate.
Und das im Inneren der Wartehäuschen.
Dafür verzichtet man stadtweit darauf, die Stationsnamen auf die Haltestellen zu schreiben.
Wäre ja auch zu einfach, wenn man wüsste, wo man ein- oder aussteigen soll. Politische Orientierung ist viel wichtiger als örtliche.
Das wäre übrigens ein relativ einfaches Problem, das die Stadtpolitik im Handumdrehen lösen könnte…
In neueren Öffi-Garnituren gibt es Infoscreens mit Werbung. Auch dort schalten politische Parteien Spots.
Pravda i Narod etwa lässt in den Straßenbahnen Portraitfotos und Namen aller ihrer Kandidaten für alle Bezirksvertretungen in Sarajevo durchlaufen – und nicht nur für die Općine.
Das sind jeweils 34 oder 38 Kandidaten mal gut und gern ein Dutzend Wahllisten.
Auch die SDP hat dort Werbung geschaltet, allerdings viel zurückhaltender.
Fotos von diesen Wahlwerbungen hab ich keine gemacht.
Auch sonst nutzt man so ziemlich jede freie Werbefläche, um auf sich aufmerksam zu machen.
Dem Wahlkampf entkommst du nicht
Selbst wer es schafft, diese allgegenwärtige Wahlwerbung auszublenden, kommt am Wahlkampf nicht vorbei.
Die politischen Parteien haben auch ihre Stände, wo Kandidaten und Aktivisten Wählerinnen und Wähler direkt ansprechen, die nicht schnell genug davonrennen können.
Aber wenigstens haben die Angesprochenen in diesen Fällen Gelegenheit, über die politischen Vorstellungen und Programme der Parteien und Kandidaten zu reden.
Auf den Wahlplakaten hält man die nach Möglichkeit geheim. Da finden sich im besten Fall austauschbare Allgemeinplätze, die jede Partei und jeder Kandidat von sich geben könnte.
Wer etwa würde nicht von sich behaupten „nastavljama odgovorno“ (Wir machen verantwortungsbewusst weiter“ oder die „energija promjene“ (Die Energie der Veränderung“) zu sein, wer wünscht sich nicht, dass es „bolje“ (besser) wird, und wer zählt sich nicht zu den „dobri ljudi“ (die guten Menschen), die „ljudskost na prvom mjestu“ (Die Menschheit zuerst) sieht?
P.S.: Wem es auffällt: Die klerikalnationalistische SDA wurde in diesem Artikel nicht erwähnt. Aus mir unerfindlichen Gründen ist mir keine Wahlwerbung dieser Partei vor die Linse gekommen.
Balkan Stories, Christoph Baumgarten
Christoph Baumgarten ist Journalist und Balkanreisender aus Leidenschaft. Seit 2015 verbindet er beide Leidenschaften auf seinem Blog Balkan Stories. Dort versucht er, Geschichten zu erzählen, für die es in größeren Medien meist keinen Platz gibt und stellt die Menschen in den Mittelpunkt.
Mehr von Christoph könnt ihr unter balkanstories.net nachlesen.
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