INTERVIEW

Džemal Šibljaković: „Mit dem richtigen Trigger kann jeder radikalisiert werden”

Džemal Šibljaković im Interview. (FOTO: KOSMO)

Am 2. November, jenem Abend vor dem zweiten Lockdown, entschied sich ein junger Mann, islamistischen Terror zu verbreiten und vier seiner MitbürgerInnen aus dem Leben zu reißen. Sein Fall ist aber kein isolierter in Europa.

Etwa zur gleichen Zeit in diesem Herbst wurden Paris, Nizza und Wien, mit einem Abstand von nur wenigen Tagen, Ziel von Terroranschlägen mit zehn Toten – acht Zivilisten wurden von Terroristen und zwei Attentäter von der Polizei getötet. Einer der Täter liegt im Krankenhaus im künstlichen Koma, sowohl wegen Schusswunden als auch wegen COVID-19. Der Angriff in Paris wurde von dem 18-jährigen tschetschenischen Flüchtling, Abdullah A. verübt, der 2002 in Moskau geboren wurde und vor 12 Jahren mit seiner Familie nach Frankreich floh. Der Attentäter aus Nizza, der wahrscheinlich noch am Leben ist, ist der 21-jährige Tunesier Brahim O., der erst im September dieses Jahres als Flüchtling nach Frankreich gekommen ist. Der Attentäter aus Wien Kujtim F. (20) war ein Albaner nordmazedonischer Herkunft, der in Mödling geboren wurde. Er stammt aus einer unauffälligen Familie. Seit 2018 soll der 20-Jährige immer mehr auf die schiefe Bahn geraten und in die radikale islamistische Szene abgerutscht sein. Im August 2018 wollte er nach Afghanistan reisen, was jedoch mangels Visums gestoppt wurde. Nur zwei Wochen später wurde er von türkischen Behörden in Schubhaft genommen, nachdem er versuchte, nach Syrien zu reisen, um sich dort dem IS anzuschließen. F. wurde nach Österreich ausgeliefert und hierzulande zu 22 Monaten Haft verurteilt. Er durchlief ein Deradikalisierungsprogramm im Gefängnis und wurde im Dezember 2019 vorzeitig auf Bewährung mit strengen Auflagen entlassen. Im Februar dieses Jahres wurde er vom AMS in einen Kurs zur beruflichen Orientierung geschickt, den er im April auch erfolgreich abgeschlossen haben soll. Ab Mai bezog er Mindestsicherung in der Höhe von 917,35 Euro und bewohnte eine günstige Sozialwohnung in Wien-Donaustadt.

Alle drei Attentäter sind junge Männer mit Migrationshintergrund, die in Europa, weit von irgendeinem Krieg, gelebt haben. Sind das die Grundvoraussetzungen für Extremismus? Wie werden diese Menschen von radikalen Netzen rekrutiert und radikalisiert? Können sie jemals deradikalisiert werden und kann man ähnliche Terroranschläge verhindern? Diese und weitere Fragen stellten wir Imam Džemal Šibljaković, dem einzigen Seelsorger in Österreich, der für 550 muslimische Insassen in fünf Gefängnissen verantwortlich ist. Seine Stelle wird von der Islamischen Glaubensgemeinschaft finanziert. Bis 2017 hat er diese Arbeit ehrenamtlich ausgeübt.

KOSMO fragte nach: Wer sind diese jungen Menschen, die mit demokratischen Werten aufgewachsen, aber in die Fänge des Extremismus geraten sind? Diese und weitere Fragen stellten wir Imam Džemal Šibljaković, dem einzigen Seelsorger in Österreich, der für 550 muslimische Insassen in fünf Gefängnissen verantwortlich ist. Seine Stelle wird von der Islamischen Glaubensgemeinschaft finanziert. Bis 2017 hat er diese Arbeit ehrenamtlich ausgeübt.

KOSMO: Wie läuft eine Radikalisierung in den meisten Fällen ab und wann gilt man als radikalisiert?
Džemal Šibljaković: Dies ist kein linearer Prozess, bei dem man sagen könnte, wenn man sich auf eine bestimmte Weise entwickelt, wird man notgedrungen radikal. Häufige gemeinsame Nenner sind aber z. B. mangelnde Bildung, Perspektivlosigkeit, Zugehörigkeit zu delinquenten Milieus etc. All diese Faktoren können Gewaltaffinität fördern. Diese Affinität kann zu einer Verherrlichung von Gewalt führen, die einen für „Super-Angebote” extremistischer Gruppen anfällig werden lässt. Dazu kommen noch äußere Einflüsse, wie z. B. Diskriminierungserfahrungen. Wir sehen also, dass das Feld an Möglichkeiten, wie Radikalisierung zustande kommen kann, ein breit gestreutes ist und, dass es dabei immer um einen individuellen Prozess geht. Als BetreuerIn muss man daher auch die Arbeit mit den Betroffenen sehr individuell gestalten.

„Extremismus ist keine lineare Entwicklung. Es gibt Faktoren, die ihn bestärken oder abschwächen.”

Gibt es einen Punkt, wo man sagen kann – jemand ist jetzt radikalisiert oder gibt es vielleicht auch eine Def inition dafür im Gesetz?
Radikale Positionen sind per se nicht strafbar und die Klassifizierung von Radikalität verändert sich auch von Zeit zu Zeit. Dabei geht es darum, bestimmte Positionen zu vertreten, die womöglich auch im Widerspruch zur allgemeinen Auffassung zu einem Thema, sei es Politik, Religion oder sonst was, stehen. Dies ist per se in der Regel nicht strafbar. Strafrechtlich relevant wird es dann, wenn der Begriff Extremismus fällt, wo der Gewaltaspekt hinzukommt. Aber auch da geht es um individuelle Lebenserfahrungen, die Extremismus fördern oder verhindern können. Diskriminierungserfahrungen fördern z. B. Extremismus sehr stark, während Solidaritätserfahrungen sie abschwächen. Das heißt, man darf den Prozess der Radikalisierung nicht als einen linearen betrachten und handhaben. Manchmal geht es in die eine und manchmal in die andere Richtung. Da muss man, so zu sagen, am Ball bleiben, damit man beide möglichen Erfahrungswerte, sowohl die positiven als auch die negativen, als BetreuerIn begleiten kann.

„Perspektivlosigkeit und Diskiriminierung stärken den Extremismus“, so Džemal Šibljaković, der als Seelsorger mit Insassen arbeitet. (FOTO: KOSMO)

Sie haben bereits gesagt, dass vor allem junge Menschen radikalisiert werden. Gibt es vielleicht andere Schnittmenge wie z. B. die gesellschaftliche Schicht oder Herkunft?
Es passiert häufig, dass z. B. Jugendliche, die aus Kriegsgebieten flüchten mussten, teilweise traumatisiert sind. Manche haben vielleicht den Krieg gar nicht selbst erlebt, tragen aber die Traumata ihrer Eltern in sich, die im Laufe ihrer Erziehung auf sie übertragen wurden. Wenn man nicht die Möglichkeit hat, das Trauma zu reflektieren oder zu bearbeiten, bleibt der Krieg immer präsent und entleert sich irgendwann unkontrolliert. Das heißt aber nicht, dass jeder, der aus einem Kriegsgebiet geflohen ist, ein Terrorist wird. Wir, als BetreuerInnen, müssen uns darüber bewusst sein, dass man mit viel Aufmerksamkeit agieren und betreuerisch zu Seite stehen muss. Bestimmte Gruppen hier jetzt speziell herauszupicken, macht wenig Sinn, weil dadurch gesellschaftliche Stigmatisierungen verstärkt werden könnten. So wird eben auch dieses Problem verstärkt. Wir wissen, was die Problemfelder sind, kennen die Gruppen, die zu Extremismus neigen, und gehen mit entsprechenden pädagogischen Methoden an diese Herausforderung heran.

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