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EXKLUSIV INTERVIEW

Holocaust: „Niemals vergessen, damit es sich niemals wiederholt”

Holocaust: „Niemals vergessen, damit es sich nie wiederholt” (FOTO: iStock, zVg.)

Wenn wir für jedes Holocaust-Opfer eine Schweigeminute innehalten wollen würden, müssten wir etwa 36 Jahre lang schweigen. Schweigen kann tödlich sein. Das zeigen die Verbrechen, die geschehen konnten, weil niemand sie öffentlich verurteilte und alle schwiegen. „Wir müssen unsere Stimmen jenen leihen, die keine Stimme haben. Und wir dürfen niemals vergessen, damit sich jene Gräueltat nicht wiederholt.” So beschreibt eine der Überlebenden dieses Verbrechens, von denen es in Sarajevo nur sehr wenige gab, ihre Geschichte.

Die 90-jährige Estera Erna Debevec aus Sarajevo ist Jüdin, pensionierte Juristin sowie Enkelin von Avram Altarac, dem Gründer der Schokoladen-, Bonbon- und Lokumfabrik „Zora”. Sie ist womöglich die einzige Frau in BiH, welche Ladino, die Sprache der sephardischen Juden, spricht.

Sie erinnert sich, wie sie den Holocaust überlebte und wie wichtig das Wissen um dieses Verbrechen sowohl für das Verständnis der Vergangenheit, als auch als Warnung für die Zukunft sei.

„Meine Schwester und ich wurden in einer städtischen Familie, in dem damals elitären Stadtviertel Koševo geboren. Damals war es unüblich im Krankenhaus zu gebären, hingegen kamen die Hebammen zu einem nach Hause. Meine Eltern waren Isak Kaveson und Merjama Kaveson, beide gebildete Menschen. Meine Mutter war Lehrerin, sie hatte die pädagogische Hochschule abgeschlossen, spielte Geige und lernte Sprachen.

Mein Vater war Ökonom und Stipendiat von La Benevolencija. Die jüdische humanitäre Organisation unterstützte damals einkommensschwache Kinder.

Ich begann 1940 mit der ersten Klasse. Meine Schwester war vier Jahre älter als ich. Irgendwann kam die Anordnung der Ustascha-Regierung jüdische Kinder aus den Schulen zu verweisen und sie nicht mehr zu unterrichten. Somit habe ich nur das erste Halbjahr der ersten Klasse abschließen können und ein Zeugnis mit lauter Einsern heimgebracht.”

„Meine Schwester und ich sind in einer städtischen Familie, in dem damals elitären Stadtviertel Koševo geboren. Meine Mutter war Lehrerin und mein Vater Ökonom.” (FOTO: zVg.)

Freiwild mit einem „Ž” gekennzeichnet


Sie betont, dass mit der Schule auch die ersten Anzeichen von Antisemitismus in Sarajevo einsetzten. „Mich hat das nicht so sehr getroffen, denn ich war erst in der ersten Klasse. Meine Schwester, die sehr ehrgeizig und fleißig war, war sehr unglücklich nicht mehr in die Schule gehen zu können. In dieser Zeit hatte eine Gruppe von Intellektuellen, darunter Oskar Danon, das Collegium Artisticum gegründet, um jenen ausgeschlossenen Kindern eine private Schulausbildung zu ermöglichen. Sie wollten die Kinder vor dem Horror retten, der gerade erst für uns vorbereitet wurde. Am 6. April begann das Bombardement. Eine sehr schwere Zeit begann für die Juden mit dem Einzug der Deutschen zu Beginn des Sommers. Nachts wurden Familien abgeführt. Menschen wurden in ihren Pyjamas in die Lastwägen, in Behelfslager oder in Eisenbahnwaggons gebracht. Alles begann im Zentrum von Sarajevo, wo viele Familien verhaftet wurden. Ich erinnere mich, dass mein Vater eine Armbinde mit dem Buchstaben Ž (Anm. d. Red. „Ž“ stand für das Wort „Židov“; z. Dt. „der Jude“) trug, so wie viele andere auch. Die Menschen, die das trugen, wurden wie Freiwild behandelt – jeder durfte sie angreifen, sie in ein Lager bringen, zur Zwangsarbeit zwingen oder sie an Ort und Stelle töten.

Ich erinnere mich, dass mein Vater eine Armbinde mit dem Buchstaben Ž (Anm. d. Red. „Ž“ stand für das Wort „Židov“; z. Dt. „der Jude“) trug, so wie viele andere auch. Die Menschen, die das trugen, wurden wie Freiwild behandelt – jeder durfte sie angreifen, sie in ein Lager bringen, zur Zwangsarbeit zwingen oder sie an Ort und Stelle töten.

Sie waren durch nichts und niemanden geschützt. Wir verfolgten immer, welche Straßen gerade gesäubert und von Juden entleert wurden. Wir wohnten in der damaligen Frankopanska ulica, der heutigen Gabelina, im vierten Stock eines Hauses, welches meiner Mutter und meiner Tante gehörte. Mein Großvater war als Inhaber der Schokoladenfabrik ’Zora’ sehr wohlhabend gewesen und hinterließ ihnen somit das große Mietshaus im österreichisch-ungarischen Stil. Zur damaligen Zeit waren das ziemlich elitäre Wohnungen, an welchen auch die Deutschen Gefallen fanden. Eines Tages vertrieben sie uns aus dem Stock unter meiner Tante und richteten sich dort Büros ein. Wir sahen sie im Stiegenhaus und wussten nie, wann sie kommen und auch uns so wie die anderen Juden in Sarajevo deportieren würden. Es war sehr anstrengend, in ständiger Furcht zu leben. Meine Mutter war eine kluge und intelligente Frau. Sie begriff, dass wir alles zurücklassen und unser Leben retten müssten. Die meisten jüdischen Familien wollten nicht weggehen und ihr Hab und Gut aufgeben. Sie verstanden nicht, warum sie ihre Häuser verlassen mussten”, erklärt Erna.

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