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EXKLUSIV INTERVIEW

Holocaust: „Niemals vergessen, damit es sich niemals wiederholt”

„Menschen, welche eine gekennzeichnete Armbinde mit Ž trugen, waren wie Freiwild — jeder durfte sie an Ort und Stelle töten. Sie waren durch nichts und niemanden geschützt.” (FOTO: iStock)

Überleben mit gefälschten muslimischen Dokumenten


Erna Debevec betont, dass ihre Mutter entschied Sarajevo zu verlassen. „Zu dieser Zeit gab es Menschen, die Passierscheine fälschten. Das war natürlich teuer zu bezahlen. Mein Vater besorgte einen Passierschein mit einem muslimischen Namen für meine Mutter, meine Schwester und mich. Mitte September 1941 saßen wir im Zug nach Mostar, wo die Ustascha und eine italienische Militärregierung herrschten. Damals trug meine Mutter keinen Schleier. Wohlhabende Frauen trugen damals Tücher und Kappen. An jenem Tag im Zug bedeckte meine Mutter ihr Gesicht mit dem Tuch als der Kontrolleur uns ermahnte nicht zu sprechen, denn an unserer Sprache hätte man erkennen können, dass wir falsche Dokumente besaßen.

So kamen wir nach Mostar, wo schon viele jüdische Flüchtlinge aus Sarajevo lebten. Bald kam auch mein Vater nach und wir blieben fünf oder sechs Monate dort bis die Militärherrschaft wechselte. Nun herrschten die Deutschen sowie die Ustascha. Wir zogen weiter nach Split, das von Italienern besetzt war. Mein Vater musste jede Woche ein Dokument unterschreiben, da wir in ihrer Evidenz erfasst waren. In einer von der jüdischen Gemeinde errichteten italienischen Schule mussten wir vor einer Kommission Prüfungen bestehen, um Italienischkenntnisse zu erlangen. Ich erinnere mich sogar, als die Militärherrschaft alle religiösen Bücher aus der Synagoge und der Bibliothek verbrannten. In Split gab es sehr viele Juden. Danach beschlossen die Italiener uns auf unterschiedliche Inseln umzusiedeln. Wir wurden nach Brač, andere nach Hvar und Korčula gebracht.”

Mein Vater besorgte einen Passierschein mit einem muslimischen Namen für meine Mutter, Schwester und mich.

Estera Erna Debevec

Lager, Rab, Kapitulation Italiens, Rückkehr


Nach mehreren Umsiedlungen auf unterschiedlichen Inseln wurden die Familie im Sommer 1942 nach Rab gebracht. Erna meint, es sei gut, dass es zur italienischen Kapitulation kam, denn sonst wäre das Lager den Deutschen übergeben worden.

„Dieses Lager mit Stacheldraht, hohen Wachtürmen und Scheinwerfern wurde speziell für Juden errichtet. Darin gab es einen Teil mit Holzbaracken. Im anderen Teil waren die Baracken aus Ziegelsteinen. Dort wurden Juden aus der Region Dubrovnik festgehalten. Es gab auch eine Schule, die wir besuchten. Wir waren bis 9. September 1943 in diesem Lager. Dann kapitulierte das faschistische Italien und das Lager wurde geöffnet. Die Freude war so groß, wir haben den ganzen Tag gesungen! Schon bald wurde die Raber Brigade gegründet, um sich den Partisanen anzuschließen. Die Partisanen übernahmen die Evakuierung des Lagers und überstellten uns sukzessive in die Stadt Rab. Damals sah ich zum ersten Mal ein Bild von Tito. Wir waren überwiegend in orthodoxen Dörfern in Kroatien.Nach einer längeren Zeit in Rab, waren wir in Otočac und Topusko, einem Kurort.

Ich erinnere mich, dort Vladimir Nazor gesehen zu haben. Hier warteten wir die Befreiung Sarajevos am 6. April ab. Das war ein Freudenfest mit Musik! Danach kamen wir nach Split. Ich wurde krank und bekam Mumps. Im August 1945 kehrten wir nach Sarajevo zurück. In gewisser Weise war es eine Freude zurückzukommen. Das Wichtigste war, dass wir nicht mehr gefährdet waren. Menschen kamen, um uns zu helfen, und nicht, um uns irgendwie zu schaden. Wenn es die Partisanen nicht gegeben hätte, hätte es uns auch nicht mehr gegeben. Als wir nach Sarajevo zurückkehrten, waren die meisten unserer Wohnungen besetzt oder komplett entleert. Wir schliefen auf dem Boden. Meine Eltern waren bedrückt, denn sie hatten ihre Familien verloren. Mein Vater hatte sechs Schwestern und drei Brüder und er war der Einzige, der sich retten konnte. Trotz der Trauer um die Verluste war uns bewusst, dass wir weitermachen und uns ein neues Leben aufbauen mussten”, sagt Erna.

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