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Kommentar

Wenn der Balkan nicht mehr deine Heimat ist

(FOTO: iStockphoto/master1305, Illustration)

Der erhitzte Balkanboden atmet auf. Restaurants und Bars leeren sich, Schlangen bilden sich an den Grenzen in den Westen, Luxusautos verlassen Dörfer, Provinzen und Großstädte mit hausgemachten Rakija-, Prosciutto- und Käsevorräten im Gepäck.

Nach einer weiteren turbulenten Urlaubssaison kehren die Menschen der Diaspora zurück nach Hause. In einer paradoxen Stimmung von Euphorie und Depression sind die Reisenden (erneut) unsicher, wie sie dieses Gefühlschaos einordnen sollen. Noch vor dem Sommer war die einzig entscheidende Frage „Kad ćeš kući?“ (´Wann fährst du heim?´) die jeden einzelnen mit einer kitzelnden Vorfreude erhellt hat. Als sie dann kući (Zuhause)waren, wurden sie dann ständig mit der Frage konfrontiert „Do kada ostaješ, kad ćeš kući?“ (´Wie lang bleibst du, wann fährst du wieder heim?´). Verwirrt fragt sich der Balkanmensch nun selbst: „Wo ist eigentlich mein Zuhause?“ Die Antwort lautet: Es ist noch ein unerforschtes Rätsel, das nur schwer, mit hin- und hergerissenen Gefühlen, untersucht werden kann.

Sind wir heimatlos?

Welcher Österreicher:in mit Balkanwurzeln kennt die Situation nicht. Es kommt der Sommer, die Familie, ja die ganze Diaspora freut sich nach Hause zu fahren. „Nach Hause“ ist für die Menschen aus dem EX-Jugoslawien das Pendant für den Balkan. Ein kleines Fleckchen Heimat, das irgendwo tief in uns verankert geblieben ist. Etwas, das uns aufatmen lässt an schweren Tagen in  einem westlichen Land, das Arbeit und Sicherheit bietet. Es ist ein kleines Stückchen Erde mit besonderen Menschen, die uns an unsere Kindheit und Burek, Pljeskavica, Ausschlafen, unangekündigte Besuche und Kaffee-Tratsch, fünf Mal am Tag, erinnern: an den Geruch von Freiheit und Unbeschwertheit. Nach Hause geht es meistens zwei bis drei Wochen im Jahr, selten weniger. Vor diesen Wochen werden alle Gedanken, jede Bemühung, alles das wir haben und nicht haben auf diesen Urlaub ausgerichtet, der uns Energie, Lebenskraft und Elan (zurück)geben sollen. Für das harte Leben in der Diaspora.

Und dann?

Es ist soweit. Der lang ersehnte Urlaub in die Heimat ist da. Man packt seine sieben Sachen, alle Geschenke für Verwandte und Freunde und macht sich auf den langen Weg. Die erste Hürde sind die endlosen Grenzkontrollen, doch kurz Durchatmen (oder länger) denn es lohnt sich. Denn man fährt doch nach Hause. Zu Hause angekommen, streckt man sich nach der langen Autofahrt einmal durch, atmet auf, erblickt das Haus in das man alles Geld investiert hat und ist glücklich. Für einen Moment, bis die Türe aufgeschlossen wird. Schwüle abgestandene Luft und Spinnweben erinnern einen sofort daran, dass das gesamte Haus zuerst einmal general-geputzt gehört. Bevor man das unbeschwerte Leben angeht. Und dass es eine Frist für diese Gemächer gibt, die drohend pulsiert und deshalb irgendwo in unserem Kleinhirn für drei Wochen abgesperrt wird.

Die drei Wochen Heimat vergehen schnell, man gewöhnt sich an unregelmäßiges fettiges Essen, schwarzen türkischen Kaffee, Lärm, unbändigen Spaß und die Devise „Alles ist möglich“ – die Definition von Balkangenuss eben. Bis es dann schweren Herzens wieder in das Land der Arbeit geht. Zurück zu Regeln und Disziplin. Man drückt Oma, Opa, Verwandte, Bekannte, vergießt die eine oder andere Träne und verfällt in eine trübe Stimmung. Es geht wieder zurück in ein undefinierbares nach Hause

Über das vorübergehende Zuhause im Westen freut man sich spätestens erst dann wieder, wenn das Bankkonto wieder aufgefüllt ist und die Früchte der Arbeit zu sehen sind. Und wenn man die vielen Optionen spürt, die den Unterschied machen. Möglichkeiten. Zum Arzt zu gehen, wenn was weh tut. Ohne übertriebene Summen zu bezahlen und den Sohn des Oberpascha zu kennen. Abgesichert zu sein, wenn man den Job doch verlieren könnte. Zumindest bis man einen neuen findet. Alles zu haben, das man braucht. Überall Hilfe zu erlangen. In einem sicheren Land mit Perspektive zu leben. Wir drehen uns nach dem anderen kući nur mehr um, wenn es Auszeit heißt. Wenn wir dringend unsere Batterien, mittels einer Dosis Balkan auffüllen müssen. Um sich an die Wurzeln zu erinnern, den Ort und die Heimat, die in uns bleibt. Ganz egal wo wir aktuell leben. 

Auch wenn wir zerrissene Identitäten mit einem gespaltenem Heimatgefühl sind – für die Nostalgie und Freude oft ein und dieselbe Bedeutung haben – so widersprüchlich unsere kulturellen Merkmale sind, umso mehr können wir mit Stolz sagen: „Mein Zuhause ist die Diaspora, aber meine Heimat trage ich in meinem Herzen“. Denn diese Heimat kann uns keiner nehmen. Kad ćemo kući?