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GESCHICHTE

Balkan Stories: Der Philosoph von Sarajevo

(Foto: zVg./Balkan Stories)

Er heißt Tomas. Von Beruf ist er Philosoph und Überlebenskünstler. Einer der Menschen, die sich in der allgemeinen Not und Tristesse eine Nische gefunden haben, mit der sie irgendwie überleben. Und beim Versuch der Umwelt etwas zu geben haben.

Tomas sitzt ruhig auf der Treppe der Kathedrale von Sarajevo. Der hagere, man könnte sagen ausgemergelte, Mann mit vollem Haarschopf ist in einem undefinierbaren Alter zwischen Mitte 50 und Mitte 60.

Er beobachtet die zahlreichen Touristen, die in die Kirche strömen oder in die didaktisch misslungene Srebrenica-Ausstellung oder in eines der zahlreichen Cafes am Platz.

„Hier bin ich nicht so oft“, sagt er. „Meist bin ich beim Historischen Museum, manchmal auch im Nationalmuseum.“

Im Garten des Nationalmuseums habe ich ihn das erste Mal getroffen. Zwei Jahre ist das her. Einen Tag, nachdem das Museum nach drei Jahren Schließung wegen Geldmangels wieder aufgesperrt hat.

Er sieht nicht besser aus als damals. Nur die Kleidung scheint neuer zu sein als damals, nicht so abgetragen.

Tomas wartet auf jemanden, den er in ein Gespräch verwickeln kann. Vorzugsweise, so vermutet man, Touristen.

Mit ihm oder ihr will er über die Welt sprechen, über Literatur, große und kleine Erkenntnisse und die condition bosnienne.

„Weißt du, die perfekte Metapher auf Bosnien ist die Schlussszene aus The Third Man“, sagt Tomas. „Die kennst du sicher.“

Es ist der Idealist, der einsam zurückbleibt in einer Welt, in der alles in Scherben liegt.

Alleine gelassen von den zynischen Wohlmeinenden und den Hasserfüllten.

„Was wir hier brauchen, das ist ein Paraklet“, sagt Tomas und bietet mir eine Zigarette an. „Weißt du, was das ist?“

Ich verneine wahrheitsgemäß.

„Das ist ein Erlöser, würden die Pfarrer sagen. Sie verschweigen, dass er auch ein Tröster ist. Ein Tröster, der uns aus dem Tal der Tränen führt“.

Philosophieren als Überlebensstrategie

Tomas breitet oft solche Gedanken vor Fremden aus. Wenn er nicht über Metaphern sinniert, sind es vorzugsweise antike Begriffe, deren Bedeutung er mit und häufig vor anderen erörtert.

„Mein Name ist Tomas. Das weißt du. Tomas ist der siebthäufigste christliche Name. Aber eigentlich ist er nicht christlich.“

„Sondern?“

„Es ist ein aramäischer Name. Er kommt von Te’oma und bedeutet Zwilling. In der griechischen Transkription wird daraus die Bedeutung der Zweigeteilte. Sozusagen das Gegenteil von Atom. Und du wirst nicht einen Theologen im ganzen Vatikan finden, der dir sagen kann.“

Bescheidenheit ist nicht Tomas‘ hervorstechendste Eigenschaft. Andererseits hat er auch nicht behauptet, Sokratiker zu sein.

Das würde auch schwer zu Tomas‘ Versuch passen, aus seiner Lust am laut Nachdenken einen Lebensunterhalt zu verdienen.

Es ist nicht nur die Lust an der Erkenntnis, die ihn heute auf die Stufen der Kathedrale von Sarajevo getrieben hat.

Touristen in Gespräche zu verwickeln, ist sein Beruf.

Nach einer gewissen Zeit, einer halben Stunde oder bei intelligenten Gesprächspartnern einer ganzen, wird er ihnen sagen: „Ich habe dir so viel meiner Zeit gegeben. Und meine Zeit ist das einzige, was ich habe. Wie viel ist dir diese Zeit wert? Für dich sind ein paar Mark nichts. Für mich sind sie alles.“

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