Start Aktuelle Ausgabe
REPORTAGE

Bilingualismus: Ein Leben zwischen zwei Sprachen

FAMILIE SMAJIĆ. (v.l.n.r.) Amra, Hanna, Kemal und Alen trennen die zwei Sprachen kontextabhängig sehr klar. (FOTO: KOSMO)

Zweisprachigkeit in der Praxis
Kemal (40) und Amra (39) haben 1992 als Teenager in Österreich ihre neue Heimat gefunden und sehr schnell Deutsch gelernt. Da sie nicht viel Zeit brauchten, um sich in die hiesige Gesellschaft zu integrieren und ohne Probleme mit ihren Altersgenossen zu kommunizieren, haben sie, bevor sie ihr erstes Kind bekamen, nie darüber nachgedacht, wie anspruchsvoll das Aufwachsen mit zwei völlig verschiedenen Sprachen sein kann.

„Als unser Sohn in den Kindergarten kommen sollte, waren wir zum ersten Mal mit der Thematik der Zweisprachigkeit und der Frage, welche Sprache unsere Kinder sprechen sollten, konfrontiert. Beide hatten auf Bosnisch zu sprechen begonnen und wir machten uns Sorgen, wie sie sich mit den anderen Kindern im Kindergarten verständigen würden. Aber die Pädagogin sagte uns, wir sollten auf keinen Fall aufhören, unsere eigene Sprache zu sprechen, denn Kinder, die ihre Erstsprache, die Muttersprache, gut beherrschen, können anschließend auch eine zweite Sprache leicht erlernen. So war es auch in unserem Fall”, erklärt Amra Smajić, die Mutter des sechzehnjährigen Alen und der dreizehnjährigen Hanna.

Wie die Smajićs erzählen, begann Alen nach drei Monaten im Kindergarten Deutsch zu sprechen und beherrschte es bald ebenso gut wie Bosnisch, während die Situation bei Hanna anders war.

„Ihre ersten Wörter waren auf Bosnisch, aber dann begann sie sehr schnell, mit ihrem Bruder und den Kindern im Kindergarten Deutsch zu sprechen. Anschließend kam sie mit vier Jahren in eine Phase, in der sie Bosnisch gar nicht sprechen wollte, aber wir waren hartnäckig. Jedes Mal, wenn sie irgendetwas auf Deutsch erzählen wollte, bestanden wir darauf, dass sie dasselbe auf Bosnisch beschrieb”, erklärt Amra.

Phasenweise kann es vorkommen, dass das Kind eine Sprache gegenüber der anderen bevorzugt und sie häufiger verwendet. Rössl-Krötzl warnt davor, dass Eltern aber nicht darauf bestehen sollten, dass ihre Kinder beide Sprachen immer in gleichem Ausmaß verwenden.

Amra Smajić: „Auch wenn es den Eltern schwer fällt, ist es das Beste, mit den Kindern nur eine Sprache zu sprechen oder zumindest nicht beide Sprachen in einem Satz zu vermischen.”

„Druck auszuüben oder ungünstige Methoden anzuwenden, wie etwa vorzutäuschen, man würde das Kind nicht verstehen, wenn man es zum Gebrauch der anderen Sprache bewegen will, sind nicht zielführend. Im Gegenteil weckt dies im Kind Misstrauen und Unsicherheit in der Kommunikation, statt Lust und Freude an Sprache. Das Prinzip ’eine Person – eine Sprache’ sollte jedoch nur im Hintergrund der eigenen Sprachverwendung der Eltern stehen, nicht als starres Prinzip allzu konsequent durchgezogen werden, sondern authentisch und angepasst an die Bedürfnisse des Kindes. Letztlich entscheidet das Kind – auch und gerade das sehr junge Kind – selbst, welche Sprache es sprechen möchte.”

Die Trennung der Sprachen nach dem jeweiligen Kontext ist eine gelebte Praxis in der Familie Smajić. Wenn es um ein Thema mit Schulbezug geht, dann verläuft die Kommunikation auf Deutsch, wenn es jedoch darum geht, wie der Tag verbracht wurde, wird eher Bosnisch gesprochen. Der Nachwuchs der Familie Smajić kommunizieren miteinander meist in beiden Sprachen, während sie mit den Schulfreunden, die ebenfalls vom Balkan stammen, überwiegend Deutsch sprechen. Nur, wenn sie alleine sind, wenn niemand aus anderen Ländern dabei ist, reden sie Bosnisch.

Amra und Kemal: „Die Beherrschung einer Sprache ist ein kostenloses Geschenk, das du deinen Kindern mitgeben kannst.” (FOTO: KOSMO)

„Mit meiner Schwester spreche ich beide Sprachen, und für welche wir uns entscheiden, hängt vom Thema ab. Wir bemühen uns, jeweils nur in einer Sprache zu sprechen und sie nicht zu vermischen. Wenn ich nicht mehr weiß, wie ein Wort auf Bosnisch heißt, frage ich meine Eltern und dann wiederhole ich es, um es leichter und schneller zu lernen”, erklärt Alen und betont, dass er, obwohl er gut Bosnisch spricht, leichter auf Deutsch kommuniziert, weil er es häufiger verwendet. Auch für Hanna ist es die Sprache, die ihr leichter fällt.

„Ein typisches Phänomen bei Zweisprachigkeit ist, dass sich in Abhängigkeit zu den Verwendungskontexten der Sprachen – sei es Familie, Schule, Hobby oder berufliches Umfeld – themenbezogene Unterschiede etwa in den Wortschatzkenntnissen zeigen können. Man spricht in diesem Zusammenhang auch von ’lebensweltlicher’ Zweisprachigkeit, was so viel heißt, dass die Beherrschung der Sprachen nicht immer deckungsgleich ist”, erläutert die Linguistin Rössl-Krötzl.

Die Wahrscheinlichkeit ist hoch, dass Kinder auch Phasen durchmachen, in denen sie beide Sprachen vermischen oder Begriffe aus der anderen Sprache entlehnen, um ihre Gedanken auszudrücken. Manchmal kann es passieren, dass sie beide Sprachen in einem einzigen Satz verwenden, was sehr oft eine Folge der Art und Weise ist, in der die Eltern miteinander kommunizieren. Die Smajićs finden allerdings, dass man die Sprachen klar trennen sollte, um Zweisprachigkeit zu erzielen, genau, wie es auch die Linguistik betont.

„Auch wenn es den Eltern schwer fällt, ist es das Beste, mit den Kindern nur eine Sprache zu sprechen oder zumindest nicht beide Sprachen in einem Satz zu vermischen. Wenn jemand neben seiner Muttersprache noch eine zweite Sprache beherrscht, ist es sehr wichtig, auch diese zweite Sprache mit dem Kind zu sprechen”, empfiehlt Amra anderen Eltern.

„Leider machen sich die meisten Leute, die in reiferen Jahren nach Österreich gekommen sind und daher auch später mit dem Deutschlernen begonnen haben, keine Gedanken darum, ob sie mit ihren Kindern richtig sprechen. Oft bringen sie ihnen Falsches bei oder, was noch schlimmer sein kann, sie sprechen mit ihnen halb-halb in einem einzigen Satz”, sagt Kemal und betont, dass seine Frau und er immer darauf bestanden haben, dass die Kinder ihre Sätze in der Sprache beenden, in der sie diese begonnen haben.

„Halbsprachigkeit”
Wenn die Kleinkinder eine Basis erworben haben bzw. begonnen haben, die Muttersprache zu sprechen und richtig einzusetzen, dann sind sie bereit, noch eine weitere Sprache zu lernen. Aber auch die frühere Einführung einer zweiten Sprache muss nicht in jedem Fall zu Problemen führen. Hier spielen die Eltern die entscheidende Rolle. Sie müssen genügend Zeit für ihr Kind aufbringen und Anregungen bieten. Wenn dies unterbleibt, besteht die Gefahr, dass die Sprachentwicklung beim Kind verzögert wird und keine Sprache hinreichend gut erlernt wird. Dies sieht in den meisten Fällen so aus: Obwohl das Kind in einer Sprache spricht, verwendet es auch Wörter der anderen Sprache und bleibt unsicher in der Verwendung der grammatischen Formen und bei der Aussprache ähnlicher Laute.

„Zur sog. ’Halbsprachigkeit’ kann es nur dann kommen, wenn die Bedingungen, von denen ich bereits einige angesprochen habe, nicht beachtet werden. Zentral ist zudem, auf das Kind keinen Druck auszuüben. Ein bedeutsamer Faktor für den Erwerb weiterer Sprachen ist stets die Motivation, diese Sprache/n lernen zu wollen. Für das Kind muss der Mehrwert erkennbar sein, es muss sich von der Verwendung der Sprachen etwas versprechen, im jungen Alter ist dies noch unbewusst. In der Interaktion mit den Erwachsenen sind hier vor allem die emotionale Beziehung, der Wissenszuwachs, der Spaß, der Trost und vor allem die Selbstwirksamkeitserfahrung des Kindes zu nennen. In der Interaktion mit den Gleichaltrigen im Kindergarten oder in der Krippe ist dies die Stillung des sozialen Bedürfnisses, Freunde zu gewinnen. Das Kind bildet ja seine Persönlichkeit ab einem Alter von drei Jahren stark über die sozialen Beziehungen mit den Gleichaltrigen heraus, und dies geschieht zu einem überwiegenden Teil über die sprachliche Interaktion. Sieht das Kind keine Veranlassung, die zweite/dritte Sprache zu sprechen, dann wird es sie vermutlich meiden”, erklärt Rössl-Krötzl.

Was sind die Vorteile der Zweisprachigkeit?
Wie die älteren Smajićs betonen: „Die Beherrschung einer Sprache ist ein kostenloses Geschenk, das du deinen Kindern mitgeben kannst.” Und deswegen erlernen Alen und Hanna in der Schule auch weitere Fremdsprachen leichter und der Unterricht in Englisch, Französisch und Latein fällt ihnen nicht schwer.

Über die Vorteile der zweisprachigen Erziehung sagt auch Barbara Rössl-Krötzl: „Unter günstigen Bedingungen hat Zweisprachigkeit viele positive Effekte. Das Kind lernt etwa sehr früh, dass die Bezeichnungen und Wörter etwas Willkürliches sind, in jeder Sprache anders lauten und nicht auf einem festgeschriebenen Gesetz beruhen. Man kann sagen, dass Kinder dadurch schon früh ein Verständnis und eine Offenheit bezüglich Vielfalt und Unterschiedlichkeit gewinnen, und mit heterogenen (Sprach-)Situationen besser umgehen können, flexibler sind.”

Erfahrungen zeigen, dass bilinguale Menschen über bessere Fähigkeiten verfügen, Gesten und Stimmen zu imitieren, bessere Sprecher sind und leichter mit Wörtern manipulieren können. Sie lernen schneller und leichter, denn sie befinden sich ständig in Situationen, in denen sie von einer in die andere Sprache wechseln müssen. Es gibt jedoch keinen wissenschaftlichen Nachweis, dass sie aufgrund ihrer Zweisprachigkeit auch Fremdsprachen leichter lernen.

„Es lässt sich nicht allgemein sagen, dass zweisprachige Kinder talentierter sind, wenn es um das Erlernen von Fremdsprachen geht, da ein Fremdsprachenerwerb unter anderen Vorzeichen als ein bilingualer Spracherwerb im Kindesalter abläuft. Üblicherweise erfolgt der Fremdsprachenerwerb im Rahmen unterrichtlicher Lernformate und zwar auf Basis bewusster Lernprozesse des Schülers/der Schülerin bzw. des /der erwachsenen Lerners/Lernerin. Dazu sind spezifische Einsichten und Fähigkeiten hilfreich, deren Weiterentwicklung nicht nur, aber auch durch das Erlernen von Sprachen gefördert wird. Und natürlich spielt im Fremdsprachenerwerb die Motivation und eine entsprechend anregende Vermittlung eine bedeutende Rolle”, sagt Rössl-Krötzl.

Die zweisprachige Erziehung sollte vor dem Hintergrund der Welt, in der wir leben, als ganz normal empfunden werden und nicht Kalkulationen unterliegen, die vom Einzelnutzen bestimmt werden.

„Ich würde es so sagen: Es gilt, den Vorteil eines vorhandenen mehrsprachigen Lebensumfeldes zu nutzen und die Potenziale zum Erwerb von Mehrsprachigkeit auszuschöpfen, die Kinder von Geburt an von sich aus mitbringen. Als Nachteil würde ich dementsprechend die Verhinderung der mehrsprachigen Erziehung betrachten. Unter dem Strich geht es aber letztlich stets darum, den Kindern Sprache als etwas Bedeutungsvolles und Spannendes näher zu bringen, durch anregende Gespräche über interessante Wissensgebiete, im Rahmen von Liedern, Reimen, Sprüchen und vielen Geschichten – in welcher Sprache auch immer”, schließt Rössl-Krötzl.