Start Aktuelles
Proteste

EU-Heuchelei? Ex-Präsident Tadic rechnet mit Brüssels Vucic-Kurs ab

Studenten protestieren gegen den serbischen Präsidenten Vucic.
FOTO: EPA-EFE/RONALD WITTEK/ANDREJ CUKIC

Serbien steht am Scheideweg: Während Studierende gegen Korruption protestieren, warnt Ex-Präsident Tadic vor dem Zerfall der Gesellschaft und kritisiert die EU-Staaten für ihre Toleranz gegenüber Vucic.

Nach monatelangen regierungskritischen Demonstrationen befindet sich Serbien nach Einschätzung des früheren Präsidenten Boris Tadic an einem entscheidenden Wendepunkt. „Kann die Kraft der Proteste zu einer Kraft der politischen Wende werden? Wenn nicht, wird die serbische Gesellschaft weiter zerfallen“, erklärte Tadic im Gespräch mit der APA in Ljubljana. Der pro-europäische Politiker bemängelte dabei, dass die EU-Mitgliedstaaten das autoritäre System unter Präsident Aleksandar Vucic seit Jahren hinnehmen würden.

Die Europäische Union betrachte das Vucic-Regime bedauerlicherweise nur durch die Brille eigener Interessen, so Tadic. Er verwies darauf, dass etwa Frankreich am Verkauf von Kampfflugzeugen nach Serbien interessiert sei, während Deutschland Begehrlichkeiten bezüglich der serbischen Lithiumvorkommen hege. „Das zerstört aber die Demokratie in Serbien und die europäischen Grundwerte“, warnte der ehemalige Staatschef.

Die serbischen Lithiumvorkommen, die zu den größten in Europa zählen, sind tatsächlich von strategischer Bedeutung für die deutsche Industrie. Nach dem vorübergehenden Stopp des umstrittenen Rio-Tinto-Projekts im Jahr 2022 wurden in Deutschland intensive Debatten über die Sicherung von Rohstofflieferungen aus Serbien geführt. Die Bundesregierung verfolgt dabei das Ziel, die Abhängigkeit von Lithium-Importen aus China und anderen Drittstaaten zu verringern, da der Rohstoff für die europäische Elektroauto- und Batterieproduktion unverzichtbar ist.

Studentische Protestdynamik

Die protestierenden Studierenden hätten mit ihrem Aufbegehren gegen fundamentale Ungerechtigkeiten und Korruption eine neue Dynamik in die serbische Politik und Gesellschaft gebracht, betonte Tadic am Rande einer Westbalkan-Konferenz. „Jetzt brauchen wir auch ein politisches Erwachen dieser jungen Leute, aber da gibt es ein Problem. Sie haben keine politische Erfahrung und keine politischen Fähigkeiten, aber ohne diese ist ein politischer Wandel nicht möglich“, führte der Ex-Präsident aus. Er forderte Unterstützungsmaßnahmen für die Studenten, auch vonseiten der EU. Brüssel solle nicht nur den Dialog mit der serbischen Opposition suchen, sondern auch den Anliegen der Studierenden Gehör schenken.

⇢ Serbische Studenten blockieren Rundfunksender (VIDEOS)

Die protestierenden jungen Menschen in Serbien verkörperten derzeit „die größten Hüter der europäischen Werte auf dem europäischen Kontinent, weil sie für Rechtsstaatlichkeit und Gerechtigkeit kämpfen“, unterstrich Tadic. Er geht von einer Fortsetzung der Protestbewegung aus. Als besonders kritischen Punkt nannte er die gegenwärtige Blockade des öffentlich-rechtlichen Senders RTS (Radio-Televizija Srbije) in Belgrad, den er als „Hochburg des Vucic-Regimes“ charakterisierte. Die Studierenden würden den Druck auf solche neuralgischen Punkte aufrechterhalten. „Sie spüren instinktiv, was diese Punkte sind“, sagte Tadic, der selbst an den Demonstrationen teilnimmt.

Politische Lösungswege

Eine Kooperation zwischen Studierenden und Opposition wäre aus Tadics Sicht wünschenswert. Allerdings gestalte sich dies als heikle Angelegenheit, da die jungen Protestierenden das Vertrauen in die etablierte Politik verloren hätten. „Ich denke, es wäre gut, wenn sich Studenten, Oppositionsparteien, prominente Persönlichkeiten und die Universität zusammensetzen würden, um die offenen Fragen zu diskutieren und auch die Fehler aufzuzeigen, die gemacht wurden“, unterstrich er.

⇢ Belgrad im Ausnahmezustand: Tausende marschieren für Vučić

Tadic mahnte zur Vorsicht bei vermeintlichen Lösungsansätzen für die politische Krise, etwa der Idee einer Expertenregierung. Sollte das gegenwärtige Regime durch ein Expertenkabinett ohne praktische politische Erfahrung ersetzt werden, das die Bevölkerung enttäusche, würde Serbien in einen verhängnisvollen Kreislauf geraten, aus dem es kaum mehr einen Ausweg gäbe.

Dies hätte negative Folgen sowohl für das Land selbst als auch für die gesamte Region.

Inzwischen hat die serbische Regierung signalisiert, dass sie bestimmte Lithiumprojekte unter Auflagen wieder aufnehmen könnte, was sowohl in Serbien selbst als auch in der EU kontroverse Debatten über Umweltstandards und wirtschaftliche Souveränität ausgelöst hat. Diese Entwicklung unterstreicht die wirtschaftliche Komponente in den komplexen Beziehungen zwischen der EU und Serbien, die von Tadic kritisiert wird.