Österreichs Erwachsene verlieren ihre Lesefähigkeit – ein alarmierender Absturz unter den OECD-Durchschnitt zwingt den Bildungsminister zum Handeln.
Die Lesekompetenz österreichischer Erwachsener hat einen besorgniserregenden Tiefpunkt erreicht. Innerhalb von elf Jahren verzeichnete das Land einen markanten Rückgang der Lesefähigkeiten, wie die jüngste PIAAC-Erhebung (Programme for the International Assessment of Adult Competencies) der Statistik Austria belegt. Bildungsminister Christoph Wiederkehr sieht dringenden Handlungsbedarf und skizziert im Gespräch mit der „Krone“ seine Reformpläne für das Bildungssystem.
Die Zahlen sprechen eine deutliche Sprache: Die Lesekompetenz erwachsener Österreicher hat sich seit 2011/12 erheblich verschlechtert. Die PIAAC-Studie, die in 31 Ländern die Fähigkeiten der erwerbsfähigen Bevölkerung zwischen 16 und 65 Jahren untersucht, zeigt eine beunruhigende Entwicklung. „Bei Personen mit höheren Bildungsabschlüssen blieb die Lesekompetenz weitgehend stabil, während sie bei Menschen mit niedrigeren Bildungsabschlüssen deutlich abnahm“, erläutert Tobia Thomas, Generaldirektor der Statistik Austria.
Mit 254 Punkten liegt Österreich nun deutlich unter dem OECD-Durchschnitt (Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung) von 260 Punkten. Der Rückgang um 12 Kompetenzpunkte seit der letzten Erhebung ist alarmierend. Besonders ab einem Alter von 35 Jahren zeigt sich eine negative Tendenz. Lediglich die Gruppe der 16- bis 24-jährigen Schüler und Studenten hebt den Gesamtschnitt an.
Im internationalen Vergleich wird die Problematik noch deutlicher: Während Deutschland seine Lesekompetenz halten konnte, bauen nordeuropäische Länder wie Finnland und Schweden ihren Vorsprung weiter aus. Österreich verliert zunehmend den Anschluss.
Betroffene Gruppen
Vor allem bei anspruchsvolleren Texten wie Zeitungsartikeln, Magazinen und Newslettern offenbaren sich die Defizite der österreichischen Bevölkerung. Die Statistiker können dieses Phänomen allerdings nicht abschließend erklären. Besonders stark sank die Lesekompetenz bei Beschäftigten im Dienstleistungssektor, im Handwerk, in Montageberufen sowie bei Hilfskräften.
Unter den nicht erwerbstätigen Personen weisen hauptsächlich Pensionisten und Personen, die ausschließlich Haushaltstätigkeiten nachgehen, schwache Leseleistungen auf. Bemerkenswert ist, dass Personen mit nicht-deutscher Muttersprache in ihrer Erstsprache befragt wurden und diese Ergebnisse in die Gesamtauswertung einflossen.
Eine interessante Entwicklung zeigt sich bei Teilzeitbeschäftigten: Sie erreichen in der aktuellen Erhebung ein höheres Leseniveau als noch vor elf Jahren. Der Grund liegt im gestiegenen Akademikeranteil unter den Teilzeitkräften. Wenig überraschend bestätigt die Studie auch den Zusammenhang zwischen höheren Kompetenzen, besserer Bildung und höherem Einkommen.
Bei den mathematischen Alltagskompetenzen verzeichnet Österreich einen Rückgang um fünf Punkte, was Experten jedoch als „nicht alarmierend“ einstufen, da dieser Wert im statistischen Schwankungsbereich liege. Mit 267 Punkten liegt Österreich hier über dem OECD-Durchschnitt. Die aktuelle Bildungsmisere lässt sich kaum kurzfristig beheben – die Hoffnung ruht auf künftigen Generationen.
Wiederkehrs Lösungsansätze
Im Interview mit der „Krone“ äußert sich Bildungsminister Christoph Wiederkehr besorgt über die Entwicklung: „Ich finde es erschreckend. Gerade in einer Zeit, die sich rasant verändert, bräuchte es eigentlich mehr Lesekompetenz.“ Er betont, dass der Rückgang kein ausschließlich österreichisches Problem sei. Als Ursachen nennt er Migration, Pandemiefolgen und übermäßigen Handykonsum, wobei besonders Social Media das sinnerfassende Lesen erschwere.
Auf die Frage nach der überdurchschnittlich großen Kompetenzschere in Österreich verweist Wiederkehr auf die hohe Zahl an Menschen ohne Pflichtschulabschluss – häufig bedingt durch Zuwanderung aus bildungsfernen Schichten in den vergangenen Jahren.
Der Minister arbeitet an einer Anpassung der Lehrpläne zur nachhaltigen Leseförderung: „Leseförderung beginnt im Kindergarten und wird in der Schule intensiviert, besonders durch eine stärkere Deutschförderung und eine neue Verankerung in den Lehrplänen.“ Er räumt ein, dass viele Betroffene seit Jahren nicht mehr im Bildungssystem sind, weshalb auch lebenslanges Lernen gefördert werden müsse.
Wiederkehr identifiziert eine solide Grundbildung als Schlüssel zur Problemlösung. Menschen ohne oder mit niedrigem Bildungsabschluss seien deutlich benachteiligt. Als Lösungsansatz plant er eine „Bildungspflicht“ mit einer „mittleren Reife“: „Nicht die Anzahl der Schuljahre soll zählen, sondern ob jemand Lesen, Schreiben und Rechnen tatsächlich beherrscht.“
Dies könnte bedeuten, dass Schüler länger als die bisher vorgeschriebenen neun Jahre im Bildungssystem verbleiben müssen. Der Minister betont jedoch: „Einfach ein zusätzliches Schuljahr anzuhängen, reicht nicht. Wenn es in neun Jahren nicht funktioniert hat, bringt das zehnte auch nichts – zumindest nicht im herkömmlichen Sinne.“
Stattdessen seien innovative Förderkonzepte notwendig.
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