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NOVI SAD

Balkan Stories: Der Atheist und die Konvertitin

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FOTO: Balkan Stories

Keine 700 Mitglieder

Heute hat die Gemeinde 680 Mitglieder, erzählt mir Gemeindepräsident Mirko Adam. „Die sind in allen Altersschichten“, sagt er. „Wir haben ein paar ganz Alte, aber eben auch etliche Jugendliche und sogar ein paar Babies.“

Die meisten stammen von ungarischen oder deutschsprachigen Juden ab.

Bis 1918 gehörte die Vojvodina mit ihrer Hauptstadt Novi Sad zur ungarischen Hälfte des Habsburgerreichs. Heute gehört etwa ein Drittel der Bevölkerung der ungarischen Minderheit an.

Daneben gibt es eine größere slowakische und eine ukrainische Bevölkerungsgruppe und kleinere Reste der früher starken deutschsprachigen Minderheit. Amtsgebäude müssen mindestens viersprachig gekennzeichnet sein, ebenso die meisten Ortstafeln.

So wie die meisten anderen Vojvodiner ist Mirko mehrsprachig.

Jiddisch ist hier ausgestorben

Neben dem serbischen Idiom beherrscht er Englisch und Ungarisch. Das dürfte für viele andere Gemeindemitglieder ebenfalls gelten. Jiddisch freilich ist ausgestorben, sagt er. „Es hat noch einige alte Holocaustüberlebende gegeben, die es konnten. Die haben es aber den Jüngeren nicht beigebracht.“

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FOTO: Balkan Stories

Von sich selber sagt der 70-jährige Mirko, ein ehemaliger Fernsehjournalist: „Ich bin Atheist. Aber ich bin auch stolzer Jude“. Die meisten seien nicht sehr religiös meint er. Aber es gibt auch eine Konvertitin: „Sie war eine christliche Serbin. Nachdem sie in einer Theateraufführung Anne Frank gespielt hat, ist sie nach Israel gegangen und dort zum Judentum konvertiert.“

Vom Atheist zur Konvertitin eint die Gemeindemitglieder, dass sie das jüdische Leben in Novi Sad erhalten wollten und das reichhaltige jüdische Erbe Jugoslawiens und Serbiens bewahren.

Gerade die Vojvodiner Juden können einiges vorweisen. Mit Ivan Ivanji kommt einer internationalen bekanntesten Schriftsteller Jugoslawiens und Serbiens aus der autonomen Provinz. Er hat Buchenwald überlebt und schildert das in seinem Roman Schlussstrich. Jahrzehntelang war er Titos Übersetzer. Sein Sohn Andrej ist bekannter Journalist bei der kritischen Zeitschrift Vreme. Wie der Vater veröffentlicht er auch auf Deutsch.

Vermietung sichert finanzielles Überleben

Auf einer Bühne vor Thoraschrein und Birma sind einige Sessel und Mikrofone aufgebaut. Morgen Abend wird hier ein Konzert aufgeführt.

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FOTO: Balkan Stories

„Bei uns ist mehrmals im Monat was los. Komm vorbei, wenn du Zeit hast“, meint der freundliche Portier/Synagogenführer/Sicherheitswachmann.

Auch damit ist die jüdische Gemeinde zu einem wichtigen Bestandteil des kulturellen Lebens von Serbiens zweitgrößter Stadt geworden.

Sie bietet einen Rahmen für vielfältige Kulturveranstaltungen mit sehr niedrigem oder gar keinem Eintrittsgeld. Die Mieten aus den Veranstaltungen bilden neben Spenden vorwiegend aus Israel und Deutschland das finanzielle Rückgrat der Gemeinde.

Von den knapp 80.000 Euro Eintrittsgeld im Jahr lässt sich die große Synagoge kaum erhalten. Von den sonstigen Aktivitäten der Kultusgemeinde ganz zu schweigen.

„Wir arbeiten alle ehrenamtlich, nur ein Mitarbeiter bekommt ein kleines Anerkennungsgeld“, sagt Gemeindepräsident Mirko. Aber auch ohne Gehälter kosten Kinderbetreuungsgruppen, Chor und Tanzgruppen sowie Sozialprojekte Geld.

Eine Gemeinde mit nicht einmal 700 Mitgliedern kann das nur eingeschränkt finanzieren.

Dass die Synagoge für allgemein zugängliche Kulturveranstaltungen vermietet wird, hilft nicht nur mit dem Geld. Es macht auch deutlich, dass die Juden zu Novi Sad gehören wie Novi Sad zu ihnen.

Diese Offenheit könnte auch in Zukunft der beste Schutz sein, den sich die Gemeinde vorstellen kann.

Balkan Stories, Christoph Baumgarten

Christoph Baumgarten ist Journalist und Balkanreisender aus Leidenschaft. Seit 2015 verbindet er beide Leidenschaften auf seinem Blog Balkan Stories. Dort versucht er, Geschichten zu erzählen, für die es in größeren Medien meist keinen Platz gibt und stellt die Menschen in den Mittelpunkt.

Mehr von Christoph könnt ihr unter balkanstories.net nachlesen.