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REPORTAGE

„Als ich an Kriegsverbrechen in Jugoslawien arbeite, bekam ich eine neue Identität“

Profiler-Reportage
(FOTO: Diva Shukoor, iStockphoto)

Ihre Lebensgeschichte voller Aufregung, Überraschungen und Humor erinnert an einen Action-Film. Auch wenn sie über die brutalsten Verbrechen spricht, ist sie entspannt, als wenn sie über Mode redet. KOSMO stellt Ihnen Mila Popov (52) vor, eine Pariserin serbischer Herkunft.

Obwohl sie mit ihrem Partner hierhergekommen ist, um einige Tage in Wien zu genießen, klingelt während unseres Gesprächs ständig das Telefon und über die sozialen Netzwerke treffen Nachrichten ein. Gesucht wird sie wegen einer dringenden Gerichtsübersetzung, irgendeinem Beschuldigten brennt die Suche nach einem Anwalt unter den Nägeln und die Polizei sucht sie wegen eines Gutachtens in einem Fall grober Gewalt. Frau Popov antwortet allen in singendem Französisch, auf Serbisch oder auf Romani, wobei das Lächeln nicht von ihrem Gesicht weicht, entspannt, als handele es sich um die banalste Arbeit der Welt. Und dann beginnt sie ihre Geschichte.

FLÜCHTLINGE
„Ich habe die zuständigen Behörden über alle verdächtigen Geschichten informiert.“

„Ich stamme aus Serbien, lebe aber seit meiner Geburt in Paris. Ich arbeite bei der Pariser Polizei und Gendarmerie als Profilerin, aber auch als Übersetzerin für Polizei, Gendarmerie und die Gerichte, und auch einige Firmen engagieren mich für die Auswahl spezieller Arbeitskräfte. Ich bin beruflich selbständig und die Dynamik, die damit einhergeht, füllt mich trotz der Verantwortung und einigen recht unangenehmen Situationen völlig aus. Und das alles hat ganz zufällig begonnen.

Aufgewachsen bin ich in einer ganz normalen Familie, und während meiner Kindheit und Jugend war ich überhaupt nicht anders als meine Altersgenossen, außer dass ich neugieriger und mutiger war, wenn es um Herausforderungen ging. Nach der Matura habe ich eine Ausbildung als Übersetzerin für Serbisch, Französisch und Italienisch gemacht und habe dann noch ein Psychologiestudium angehängt. Ich wollte in irgendeiner Institution arbeiten, die sich mit Sozialarbeit beschäftigt. Mein Wunsch ging Anfang der 90-er Jahre des letzten Jahrhunderts in Erfüllung, als so viele arme Menschen aus dem ehemaligen Jugoslawien nach Frankreich kamen. Da habe ich eine Stelle als Übersetzerin in einem Flüchtlingszentrum angenommen.

Die Zuwanderungswelle riss auch nach der Unterzeichnung des Friedensvertrags für Bosnien-Herzegowina nicht ab. Für Menschen mit ganz verschiedenen Schicksalen war unsere Institution die erste Adresse und ich die erste Person, mit der sie offiziell redeten. Damals habe ich gewisse Widersprüche in ihren Geschichten bemerkt, denn wir erhielten auch regelmäßig Berichte aus den Regionen, die von dem unglücklichen Krieg betroffen waren. Man brauchte keine besonderen Fähigkeiten, um die Wahrheit von Versuchen der Manipulation zu unterscheiden. Es war, wenn eine Familie kam, leicht festzustellen, ob es sich um eng miteinander verbundene Personen handelte, die die Not zur Flucht getrieben hatte, oder zum Beispiel um solche, die Partner mitbrachten, mit denen sie keine eheliche oder emotionale Gemeinschaft nachweisen konnten. Das war besonders deutlich, wenn ein Paar mit vielen Kindern kam, die sie als ihre eigenen ausgaben, aber kleine Gesten und die Kälte zwischen ihnen den Betrug verrieten.

Aufgrund des Manipulationsverdachts nahm das Flüchtlingszentrum eine Selektion vor und ich wurde von einer französischen Sicherheitsinstitution zum Gespräch eingeladen. Sie forderten mich auf, ihnen regelmäßig über Menschen Bericht zu erstatten, deren Geschichten nicht glaubwürdig waren und Zweifel hervorriefen. Auch wenn ich mich als Sozialarbeiterin fühlte, musste ich als französische Bürgerin allen Strukturen dienen, die diese Informationen benötigten. In dieser Zeit begann ich, zusätzlich beim größten französischen Gericht als Übersetzerin zu arbeiten, was mir viel mehr Arbeit einbrachte und mir ermöglichte, in eine neue Welt vorzudringen. Einfach war es, wenn es um einen Prozess ging, bei dem ich alle Termine im Voraus kannte. Aber es passierte auch häufig, so wie auch jetzt noch, dass mich die Polizei mitten in der Nacht wegen irgendeiner Verhaftung anrief und ich möglichst schnell dort hinkommen musste, um den Verhafteten, und das sind oft Jugendliche, zu übersetzen, was ihre Rechte sind. Ich betone, dass es dabei fast immer um Menschen aus unserer Region geht.

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„Ich reise oft, denn ich arbeite auch mit den Polizeibehörden anderer Länder zusammen, aber immer auf Vermittlung der Franzosen“, erzählte uns Mila Popov. (FOTO: Diva Shukoor)

Ich erhielt eine neue Identität
Im Flüchtlingszentrum habe ich 2009 aufgehört zu arbeiten. Ich konnte die schlimmen Geschichten nicht mehr hören und fand es immer schwerer, mich von dem menschlichen Leid zu distanzieren. Damals habe ich mich selbständig gemacht, was mir noch mehr Arbeit und häufige direkte Kontakte mit Menschen eingebracht hat, die zur Kriminalität neigen. Anfangs habe ich neben den Übersetzungen auch als Beraterin gearbeitet und dann habe ich, um nicht als Spionin behandelt zu werden, eine Stelle als Profilerin erhalten. Meine Aufgabe war es, psychologische und charakterliche Profile von Personen zu erstellen, für die sich die Polizei interessierte. Ich habe Methoden, die ich anwende, wenn ich etwas erfahren will, das für die Ermittlungsbehörden wichtig ist, und das mache ich – ohne falsche Bescheidenheit – gut. Natürlich gibt es auch Gewalt. Manchmal arbeite ich auf der Basis von Bildern, wenn es um Morde und andere schwere Fälle geht. Die Täter hinterlassen Spuren, die viel über ihre Gewohnheiten und ihre Lebensweise verraten, was bei der Lösung der Fälle helfen kann. Es ist vorgekommen, dass ich Aug in Auge einem Menschen gegenüberstand, der einen bestialischen Dreifachmord begangen hatte. Ich analysierte sein Profil und war schockiert, denn es handelte sich um einen gestandenen und gebildeten Mann, bei dem es zu einem Filmriss gekommen war, weil eines der Opfer regelmäßig zu Wahrsagern gegangen war.

Mit den französischen Ermittlern war ich auch in B-H, um zu verschiedenen Kriegsverbrechen zu ermitteln. Ich war bei der Öffnung von Massengräbern dabei, habe die schrecklichen Geschichten von Menschen aller drei Seiten gehört und versucht, ruhig zu bleiben. Ich betone, dass meine Nationalität in diesen Momenten außen vor geblieben ist, denn ich war Teil eines französischen Teams, das die Wahrheit suchte. Ich war auch an einem Fall um einen geschützten Zeugen von Den Haag beteiligt. Ich bin stolz auf meine berufliche und persönliche Objektivität, denn ich habe niemals etwas Schlechtes über die Menschen aus Ex-Jugoslawien gedacht, mit denen ich gearbeitet habe. Ich bin aber auch ein paarmal in unangenehme Situationen geraten, in denen ich wegen meiner Herkunft verbal angegriffen und beleidigt worden bin. Einmal habe ich eine Gerichtsverhandlung in einem Asylverfahren abgebrochen, denn ich wollte die politischen Parolen voller Hass und Beleidigungen gegen mich nicht hören. In der Zeit, als ich an Fällen von Kriegsverbrechen im ehemaligen Jugoslawien gearbeitet habe, habe ich eine neue Identität erhalten, damit ich wegen meiner serbischen Herkunft nicht der Parteilichkeit beschuldigt würde. So bin ich zur Französin geworden, die Serbisch spricht.

UNANGENEHM
„Es gab auch Situationen, in denen sich wegen meiner Herkunft verbal angegriffen wurde.“

Besonders interessant fand ich einen Fall, in dem die Hauptperson unser Landsmann und ein fast genialer Waffenkonstrukteur war. Nachdem eine große Menge Sprengstoff gefunden worden war, der durch Vermittlung einiger Serben für Morde auf Korsika eingesetzt wurde, flog er auf, denn er hatte die Waffen umgearbeitet. Ich erinnere mich gut an diesen Mann, denn die Waffen waren sein Hobby, es war ihm kaum bewusst, dass die dann für Morde verwendet wurden. Die Franzosen boten ihm Schutz und eine neue Identität an, wenn er für sie gearbeitet hätte, aber er lehnte ab. Ich habe verstanden, warum er das tat, als ich erfuhr, dass sich die serbischen Sicherheitsbehörden sehr für sein Schicksal interessierten und ihn für sich haben wollten. Zuletzt endete er auch dort. Oft werde ich vom Gericht angerufen, wenn es um die Auslieferung unserer Landsleute aus anderen Ländern geht. Innerhalb von einer Stunde nach Ankunft des Beschuldigten auf französischem Boden muss ich vor Ort sein und ihm mitteilen, welche Anklage gegen ihn besteht, und ihn fragen, ob er einen Anwalt oder einen Arzt möchte. Es ist schon vorgekommen, dass ich mit Lockenwicklern am Kopf im Gericht erscheine, weil ich keine Zeit hatte, sie herauszunehmen.

Ich stehe der Roma-Gemeinschaft nahe
Eigentlich arbeite ich am meisten mit der Roma-Bevölkerung, ich habe sogar ihre Sprache gelernt. Leider gibt es unter ihnen viele Gesetzesbrecher, für die ich bei der Polizei und vor Gericht übersetze, und ich lerne auch ihre Familien kennen, die sich auch für Übersetzungen an mich wenden und mich gleichzeitig um Hilfe bei der Verpflichtung eines Anwalts und vieler anderer Dinge bitten. Zum Beispiel rufen mich Eltern an, die besorgt sind, weil ihre Tochter ein paar Tage lang nicht nach Hause gekommen ist. Da ich Kontakte habe, frage ich herum und erkundige mich, ob sie vielleicht irgendwo verhaftet oder in irgendeiner misslichen Lage aufgefunden wurde, und wenn ja, dann teile ich den Eltern das mit.

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Vera Marjnaovic
Meine Berufung zur Journalistin entdeckte ich bereits als Sechzehnjährige während meiner Gymnasialzeit in Montenegro. Diesem Berufszweig bin ich seither treu geblieben. Nach meiner Ankunft in Wien widmete ich mich der Arbeit mit Mitgliedern der BKS-Gemeinschaft, wodurch ich tiefgreifende Einblicke in die Lebensgeschichten und sowohl die Triumphe als auch die Herausforderungen verschiedener Generationen gewann. Diese vielfältige Palette an Persönlichkeiten prägte meinen journalistischen Weg und festigte mein Engagement für soziale Themen.