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Balkan Stories: Der langsame Tod einer Lebensart

Kiosk in Alipašino Polje, Sarajevo. FOTO: Christoph Baumgarten
Kiosk in Alipašino Polje, Sarajevo. FOTO: Christoph Baumgarten

Die kapitalistische Transformation im ehemaligen Jugoslawien krempelt die balkanische Lebensart gründlich um. Sichtbar wird das am langsamen Tod einer Tradition: Es gibt immer weniger Kioske.

Der letzte Kiosk von Hrvatska Kostajnica hat geschlossen.

In einer Reportage für das kroatische Portal Lupiga zollt Daniel Pavlić dem Arbeitsplatz von Željka und Mela Tribut. Und zeigt auf, wie sehr dieser kleine Kiosk mehr war als der Ort, an dem man schnell Zigaretten, Zeitungen oder Süßigkeiten erstehen konnte, kleine Alltagsgeschäfte erledigen konnte wie das Handyguthaben aufladen.

Einen Überblick über die typischen Dienstleistungen eines balkanischen Kiosk bietet die bosnische Kette Duhanpromet auf ihrer Homepage.

Der Kiosk war und ist ein Zentrum des sozialen Lebens. In einer Kleinstadt mit nicht einmal 2.000 Einwohnern wie Hrvatska Kostajnica gilt das umso mehr.

„Željka ist eine Cheerleaderin, eine Frau, die positive Stimmung verbreitet, und Mela ist unser Kostajnica-Paradies. Beide verkleideten sich im Fasching, um die Kunden zu unterhalten. Wenn Kroatien ein wichtiges Spiel spielte, wurde unser Kiosk mit „Würfeln“ geschmückt und Željka und Mela verkauften in Fantrikots Lebensmittel an Fans, die das Spiel schauen wollten“, schreibt Daniel.

Der Kiosk ist eine Informationsdrehscheibe. Nicht nur wegen der Zeitungen und Magazine, die er verkauft. Man geht meist zum Kiosk in der eigenen Mahala, im Grätzel, und irgendwann kennt man einander. Die Verkäufer ihre Kunden, die Kunden einander. Wenn Zeit zum Tratschen bleibt, tratscht man. Das steht auch den Menschen offen, die kein Geld haben, ums in Cafe zu gehen.

Das sind selbst im vergleichsweise reichen Kroatien viele. In Serbien, Bosnien oder (Nord-)Mazedonien trifft das umso mehr zu, ebenso auf den Kosovo.

Umso härter traf es die Einwohner von Hrvatska Kostajnica, als sie hörten, dass ihr Kioks einer der 250 Kioske ist, die der Eigentümer Tisak heuer in Kroatien schließen will. Das ist jeder dritte Kiosk des Unternehmens. Der Tisak-Kiosk war der einzige in Hravtska Kostajnica.

„Das Management des Unternehmens sagt, dass man sich nur an die Bedürfnisse des Marktes anpasse. Ein abgenutzter Satz, den wir schon seit Jahren hören.

Portalen zufolge ist das durchschnittliche Nettogehalt in Tisko übrigens immer noch miserabel: Laut Finanzagentur lag es im vergangenen Jahr bei 764 Euro und damit 60 Euro höher als im Vorjahr. Interessant ist, dass sieben wichtige Tisk-Manager (zwei Vorstände und fünf Sektordirektoren) im vergangenen Jahr durchschnittlich rund 11.300 Euro brutto verdienten. Zu diesen Einkünften zählen Einkünfte und Sachbezüge wie ein Dienstwagen.

Öffentlich zugänglichen Statistiken zufolge erzielte Tisak im vergangenen Jahr, wenn man diesen Statistiken Glauben schenken darf, und wir glauben ihnen, einen Umsatz von 296 Millionen Euro bei einem Wachstum von sechs Prozent und einen Gewinn von 4,1 Millionen Euro, was einer Steigerung von 14 Prozent entspricht. Tisak ist in mehr als 750 Einzelhandelsgeschäften tätig. Am letzten Dezembertag waren rund 2.570 Arbeiter beschäftigt, das sind 90 weniger als am gleichen Tag des Vorjahres“, schreibt Daniel in seiner Reportage.

Dass dieser Kiosk schließt, hat für die Beschäftigten auch eine unmittelbare soziale Dimension, wie Daniel schreibt. „Željka sah mich an und weinte. Nach 18 Dienstjahren ist sie in ihren Fünfzigern und arbeitslos.“

Eine Unterschriftenaktion der Bewohner von Hrvatska Kostajnica stimmte Tisak nicht um. Jetzt stehen sie vor einem Problem: Der nächste Kiosk ist in Petrinja. Das ist 40 Kilometer entfernt. Ob er weiterbesteht, ist unklar.

Auch auf der Insel Klarin will Tisak den Kiosk schließen. 800 Menschen haben in einer Online-Petition dagegen unterschrieben. Ob es etwas nützt, steht in den Sternen.

Der kapitalistische Konzentrationsprozess fordert Opfer

Dass dieses Problem in Kroatien am ausgeprägtesten ist, überrascht wenig. Hier ist – mit Ausnahme Sloweniens – die kapitalistische Transformation der Gesellschaft am weitesten fortgeschritten. Kapitalistische Konzentrationsprozesse spielen hier eine weitaus größere Rolle als sie das etwa in Bosnien oder Serbien tun.

Im Dienstleistungssektor heißt das: Einkaufszentren und Hypermärkte an den Rändern größerer Städte übernehmen kostengünstiger die Aufgaben der vielen kleinen Geschäfte in Wohnvierteln, Kleinstädten und Dörfern. Diese kleinen Geschäfte sperren nach und nach zu.

Das hat man in Deutschland oder Österreich in den 80-ern und 90-ern gesehen. Der Greißler, in Deutschland Tante Emma-Laden, verschwand nach und nach. Es folgten die Schuster, die Änderungsschneidereien, die Bäckereien, die Bankfilialen. In zunehmendem Maß trifft es mittlerweile die kleinen Cafes in der Nachbarschaft.

Die Grätzel, die Kieze, abseits der großen Einkaufsstraßen verkommen immer mehr zu reinen Schlafgegenden. Die Bewohner begegnen einander immer weniger.

Dieser Prozess hat mittlerweile das ehemalige Jugoslawien erfasst, wo bislang die kleinräumige Infrastruktur der kapitalistischen Konzentration in bemerkenswertem Ausmaß widerstanden hatte.

Der langsame Tod einer Lebensart

Hier gibt es sie noch, die kleinen Geschäfte in den Wohnvierteln aus sozialistischer Zeit, die Bäckereien, die kleinen Cafes.

Der legendäre modulare Kiosk Modell K67, der den öffentlichen Raum in Jugoslawien geprägt hatte, mag weitgehend neueren Modellen Platz gemacht haben. Nur vereinzelt findet man noch Originale, wie dieses Buch dokumentiert.

Aber ihre Nachfolger gibt es in diesen Ländern zumindest in den Städten an fast jeder Ecke.

Nachbarschaft funktioniert hier noch – auch dank dieser Infrastruktur.

Nur offenbar nicht mehr lange.

Auch anderswo schließen langsam die Kioske.

Der in der Ulica Mejtaš in Sarajevo etwa scheint geschlossen zu haben. Die Bäckerei gleich um die Ecke sowieso, ebenso der Schuster. Das Restaurant auf der anderen Straßenseite ist seit Jahren geschlossen. Einzig der Blumenladen und der Supermarkt sind geöffnet.

Vom Sozialleben her gesehen ist diese Ecke mittlerweile tot.

Auch in serbischen und montenegrinischen Kleinstädten sieht man immer mehr geschlossene Kioske.

Wie in Hrvatska Kostajnica stellt das die Bewohner vor logistische Herausforderungen. Wer eine Zeitung kaufen will, muss kilometerweit fahren oder mit der ausgeschränkten Auswahl Vorlieb nehmen, die der lokale Supermarkt anbietet.

Und ein wichtiger Treffpunkt ohne Zugangshürden geht verloren. Für immer.

Das Alltagsleben der Menschen wird in einem immer höherem Ausmaß den Bedürfnissen des Kapitalismus unterworfen.

Es ist nicht nur das Verschwinden der Kioske. Es ist der langsame Tod einer Lebensart.

Titelfoto: Geschlossener Kiosk in Rožaje in Montenegro

Die Reportage von Daniel Pavlić könnt ihr auf Lupiga nachlesen.

Anmerkung der Redaktion: Dieser Beitrag spiegelt ausschließlich die Meinung des Autors wider. Nicht die Meinung der KOSMO Redaktion.

Balkan Stories, Christoph Baumgarten

Christoph Baumgarten ist Journalist und Balkanreisender aus Leidenschaft. Seit 2015 verbindet er beide Leidenschaften auf seinem Blog Balkan Stories. Dort versucht er, Geschichten zu erzählen, für die es in größeren Medien meist keinen Platz gibt und stellt die Menschen in den Mittelpunkt.

Mehr von Christoph könnt ihr unter balkanstories.net nachlesen.