Vor 80 Jahren starb der Mann, der zur Verkörperung Sarajevos und des Widerstandsgeistes seiner Bewohner wurde. Ein Bankangestellter aus Prijepolje, der in den letzten Kriegstagen im Kampf gegen die Nazis fiel. Und ein Rockalbum, einen der meistgesehenen Filme aller Zeiten und eine Biermarke inspirierte.
„Seit ich in Sarajevo bin, suche ich Walter und finde ihn nicht. Und jetzt, wo ich gehen muss, weiss ich wer er ist.“
„Sie wissen, wer Walter ist? Sagen Sie mir sofort seinen Namen!“
„Sehen Sie diese Stadt? Das ist Walter.“
Saša lächelt breit, als er mir diesen Dialog im Gastgarten der Galerija Boris Smoje wiedergibt. Er spricht etwas holprig. Die Sprachmelodie ist schwierig für ihn. Kein Wunder. Deutsch hat Saša nie gelernt.
Diese deutschen Sätze, die kann er auswendig. Wie die meisten Sarajlije.
Diese deutschen Sätze, die können auch viele Chinesen auswendig.
Vladimir Perić wurde unter seinem Kampfnamen Valter Titos wohl bekanntester Partisan. Der Mythos um ihn überragt seinen unbestreitbaren Mut und seine jahrelange Tätigkeit im Widerstand gegen den Faschismus und die deutschen und kroatischen Besatzer Jugoslawiens bei Weitem.
Der historische Vladimir Perić
Der in Prijepolje in Serbien geborene Valter wurde seit seinem Tod vor genau 80 Jahren zur Allegorie auf die Stadt Sarajevo und ihren Widerstandsgeist – den auch die jahrelange Belagerung in den 1990-ern nicht zu brechen vermochte, wurde zu einem Symbol für die unglaubliche Solidarität in Bosnien, und für den Freiheitskampf im gesamten ehemaligen Jugoslawien.
Von 1941 an war der junge Kommunist im Widerstand gegen Nazis und Ustaša, war als Partisan in mehreren Gefechten, unter anderem in Zenica. Danach baute er die antifaschistische Widerstandszelle im besetzten Sarajevo neu auf, organisierte Spionagae für Titos Partisanen und die Alliierten, Gegenspionage, und zahlreiche Sabotageakte.
Die waren für sich kaum kriegsentscheidend – brachten aber Sand ins Getriebe der Maschinerie der Wehrmacht und retteten so viele Leben anderswo. Und sie erinnerten die Besatzer stets daran, dass sie hier unerwünscht waren.
Und Valter organisierte von Beginn an Hilfsaktionen für die große jüdische Bevölkerung Sarajevos, trieb bei den Wohlhabenden Sarajlije Spenden für versteckte Juden ein. Auch wenn das verhindern konnte, dass der Großteil von Sarajevos bis 1941 großer und blühender Gemeinde der Shoa zum Opfer fiel – viele Juden konnten dank dieser Aktionen versteckt in der Stadt überleben oder in vergleichsweise sicherere Gebiete fliehen.
Als die Nazis Anfang April 1945 abzogen, übernahm es die kommunistische Widerstandszelle um Valter, sicherzustellen, dass weder Wehrmacht noch SS die überlebenswichtige Infrastruktur sabotierten.
In der Nacht von 5. auf den 6. April inspizierte Valter ein E-Werk und das Hauptpostamt. Dort erfuhr er, dass die Tabakfabrik in Flammen stand.
Valter organisierte einen Löschtrupp, sah selbst nach dem Rechten. Eine Handgranate tötete ihn, wohl gegen Mitternacht.
Es gibt widersprüchliche Darstellungen, ob die Granate eine Sprengfalle war oder ein deutscher Soldat sie auf ihn warf.
In den Morgenstunden wachten die Sarajlije in einer freien Stadt auf. Bis heute wird der 6. April als Befreiungstag begangen. Der wichtigste Befreier der Stadt, er erlebte diesen Moment nicht mehr.
Die Geburt einer Legende
Was an diesem Tag geboren wurde, war die Legende um ihn. Seiner Beisetzung in einem Massengrab am 9. April wohnten tausende Sarajlije bei – von denen bis vor kurzem die wenigsten von seiner Existenz gewusst, und noch weitaus weniger seinen Namen gekannt hatten.
Valter war einer der Ersten, die – wenngleich posthum – den Titel „Narodni heroj“ verliehen bekamen. Volksheld. Das war die höchste Ehrung Jugoslawiens für Widerstandskämpfer im Zweiten Weltkrieg. Valter war einer von nur 63 Sarajlije, die diese Auszeichnung erhielten.
Insgesamt starben im Zweiten Weltkrieg etwa 10.000 Bewohner der bosnischen Hauptstadt. Das war etwa jeder fünfte Einwohner der Stadt. Valter war einer der letzten, die dem Krieg zum Opfer fielen.
Ein Türmchen als Erinnerungsstätte
Der ehemalige Bahnhof Sarajevos in Bistrik sollte einmal zu einer Touristenattraktion werden. Das Gebäude wurde aufwändig restauriert.
Die Filiale einer türkischen Restaurantkette verschandelt den restaurierten Bahnhof mit einem Vorbau. Als ob es nicht genug wäre, dass das Restaurant praktisch das gesamte Untergeschoss einnimmt.
Lediglich das Türmchen des alten Bahnhofs ist öffentlicher Raum.
Hier ist eine Zweigstelle des städtischen Museums von Sarajevo untergebracht. Wer nicht weiß, dass es hier ist, hat kaum eine Chance, es zu finden.
Den Zugang teilt sich das Museum mit dem Lager des Restaurants.
Ständig huschen Restaurantmitarbeiter hin und her.
Der Eintritt ist frei.
Dieses Museum ist dem Film gewidmet, der Valter zum weltweit bekanntesten Partisanen Titos machte: Valter Brani Sarajevo. Deutscher Titel: „Einer ist Sarajevo“. Englisch: „Walter Defends Sarajevo.“ Chinesisch, und das ist viel bedeutender: 瓦尔特保卫萨拉热窝.
„Erst gestern waren so um die 30 Chinesen hier“, erzählt mir Museumsmitarbeiter Eldin Hodžić. „Wenn Chinesen in der Stadt sind, kommen sie üblicherweise hier her“.
Der 1972 von Regisseur Hajrudin Krvavac gedrehte Film ist seit 50 Jahren einer der populärsten in China.
Wie Valter in China zum Superstar wurde
Das hat nicht nur damit zu tun, dass es ein handwerklich gut gemachter Actionfilm ist, der zumindest lose auf dem Wirken Valters basiert. Übrigens der erste Actionfilm des jugoslawischen Kinos.
Das hat auch politische Gründe.
Anfang der 1970-er lag der kurze chinesisch-sowjetische Krieg erst kurz zurück. Mao Tse-Tungs Regime begann, sich gegenüber Rivalen der Sowjetunion zu öffnen. Wirtschaftlich waren das die USA. Kulturell waren das die sozialistischen Staaten, die nicht mit der UdSSR verbündet waren. Das waren Jugoslawien und Albanien.
Dass Valter Brani Sarajevo außerdem eine Geschichte über den Widerstandskampf gegen faschistische Besatzer war, machte den Film für Chinas Kommunisten interessant.
Das Publikum fand Gefallen an seinen vielschichtigen Charakteren, der schauspielerischen Qualität und der Action – die man in China zu dem Zeitpunkt gar nicht kannte.
Für die chinesische Filmindustrie öffnete der jugoslawische Streifen neue Welten, erzählt Filmforscher Wang Yao gegenüber dem Portal „Sixth Tone“: „Walter’s’ major set-piece battles were the first time many in China had seen pyrotechnics up on the big screen,” says Wang. “Certain tropes from the film — the use of codewords, the swapping of uniforms and identities to infiltrate the enemy camp, and gun battles on moving trains — have been adapted by Chinese filmmakers time and time again.“
Angeblich wurde der Film in China bislang drei Milliarden Mal gesehen. Das würde ihn zu einem der meistgesehenen Filme aller Zeiten machen. Überprüfen lässt sich das nicht.
Die Zahl klingt nicht unplausibel: Nachdem er in den 70-ern im ganzen Land gezeigt worden war, läuft er seitdem regelmäßig im chinesischen Fernsehen.
Nach dem Film ist eine größere chinesische Biermarke benannt.
Auf der Etikette sieht man ein Bild von den Filmpostern: Der bekannte jugoslawische Schauspieler Velimir “Bata” Živojinović mit einer deutschen Maschinenpistole in den Händen. Er spielt Valter im Film.
Das verwinkelte Museum
Das kleine Museum dehnt sich auf mehrere Stockwerke im Türmchen aus. Die verwinkelten Räume lassen es kaum zu, ein größeres Panorama darzubieten.
Aber hier hat man liebevoll Schlüsselszenen- und Orte im Film nachgebaut.
Das deutsche Hauptquartier, das Uhrmachergeschäft von Sead Kapetanović, Regisseur Hajrudin Krvavac am Set.
Dazwischen Props wie Helme oder Maschinenpistolen.
„Nein, die sind nicht aus dem Film“, sagt Eldin. „Das sind Leihgaben des Historischen Museums“.
Auf einem Flatscreen läuft der Film mit englischen Untertiteln in Dauerschleife.
Wie oft ihn Eldin wohl gesehen haben mag?
Mehrsprachige Erklärtafeln erläutern Schlüsselszenen und ermöglichen die Einordnung des Films.
Auf Chinesisch sind sie interessanterweise nicht angeschrieben.
Das wäre vielleicht eine Enttäuschung für den italienischen Journalisten Marco Respinti, hätte er denn ordentlich recherchiert.
In einem im November veröffentlichten Artikel für das oppositionelle chinesische Portal „Bitter Winter“ fantasierte er sich eine um den Film aufgebaute Sarajevoer Tourismusindustrie für Chinesen herbei.
Sein ausgeprägter antikommunistischer Furor steht ihm bei Recherche und halbwegs neutraler Schilderung im Weg.
Widersprüchlicher Umgang mit dem Mythos
Da wurde im sozialistischen Jugoslawien und im neu unabhängigen Bosniens nuancierter damit umgegangen, dass der Film – auch dank einer mehrteiligen TV-Version – zentraler und immer wieder zitierter Bestandteil jugoslawischer Popkultur und Symbol für verkrustete Strukturen geworden war.
Die legendäre New Primitivism Band Zabranjeno Pušenje aus Sarajevo etwa nannte ihr erstes Album „Das ist Walter“. (Titel im Original auf Deutsch)
Das ist nicht nur affirmativ zu verstehen. Wie in vielen anderen ihrer Songs aus den frühen 80-ern nimmt die Band die Oberflächlichkeit überkommener Rituale auseinander – und anerkennt gleichzeitig die historische und kulturelle Bedeutung.
Das Album „Das ist Walter“ feierte im Vorjahr sein 40-jähriges Jubiläum. Balkan Stories berichtete vom Jubiläumskonzert in Sarajevo.
Auch Dubioza Kolektiv greift Valter auf. Vratiće se Valter ist nicht nur aus Sicht von Adelheid Wölfl, Balkan-Korrespondentin für die österreichische Tageszeitung Der Standard, ein Appell an Eigenverantwortung und eine Absage an Heldenmythen.
Andererseits ist der Mythos im Song auch ein Appell, sich zu organisieren.
Für das Portal Tačno kommt etwa Autorin Azra Šehović bei einer Reportage über ein Konzert von Dubioza Kolektiv zum Schluss: „Dubioza Kolektiv je Valter“.
Valter, das ist im ehemaligen Jugoslawien und besonders in Sarajevo ein Schlagwort für solidarischen Widerstand. Heute vielleicht mehr als je zuvor.
Der Mythos um Valter und die Kritik daran ist vielschichtig.
Das zeigt sich auch im Nachbarland.
So wurde etwa Bata Živojinović, der Valter im Film verkörperte, in den 1990-ern zum einem Fürsprecher von Slobodan Milošević. Wie viele eigentlich pro-jugoslawische Serben interpretierte er dessen Kriege als Versuch, das sozialistische Jugoslawien zu erhalten. Einen Widerspruch zu seiner wichtigsten Filmrolle erkannte er nicht. Auch nicht, als von Beograd unterstützte Einheiten der Republika Srpska Sarajevo 1.425 Tage lang belagerten.
Da beriefen sich Leute auf beiden Seiten der Front auf Valter.
Und eine serbische Restaurantkette nennt sich Walter Ćewapi. Damit ist man endgültig bei der Kommerzialisierung des Mythos angelangt. Wenngleich die ćevapi Sarajevski ćevapi sind und nach Meinung von Gästen als authentisch durchgehen können.
„Wer ist Walter“ als internationales Vorzeigeprojekt
Wissenschaftlich und didaktisch setzt sich ein internationales Projekt mit Valter und den Partisanen auseinander.
Das Projekt und die gleichnamige neue Dauerausstellung im Historischen Museum stellen nuanciert und detailreich den Befreiungskampf in den einzelnen europäischen Ländern dar, und analysieren bei respektvoller Würdigung für diesen Kampf kritisch, wie die Bewegungen nach dem Krieg instrumentalisiert und idealisiert wurden.
Gleichwohl liegt der Fokus auf Jugoslawien.
Dort war der Widerstand dank Titos Partisanen so ausgeprägt wie sonst nirgends – die Erinnerung außerhalb Jugoslawiens fiel dem Kalten Krieg, dem jugoslawisch-sowjetischen Zerwürfnis und den nationalistischen Revisionismen nach dem blutigen Zerfall des Landes zum Opfer.
Der Titel des Projekts ruft nicht nur in den Nachfolgestaaten Jugoslawiens vorhandene Assoziationen auf. Er ist auch ein Beitrag, dass Sarajevos wichtigster Befreier außerhalb des zerfallenen Landes ins Gedächtnis zurückkehrt. Kritisch und würdigend zugleich.
Am 80. Todestag des Freiheitskämpfers erscheint das besonders angemessen.
Wie ihr Valters Mythos entdecken könnt
Den berühmten Film könnt ihr hier in voller Länge sehen.
Einen vergessenen Beitrag Almir Šehalić mit seinem Comic-Laden Agarthi Comics in Sarajevo vor dem Vergessen bewahrt. Er hat die seinerzeit beliebte Comics-Serie namens Valter brani Sarajevo aus Schülerzeitungen rekonstruiert und als Buch herausgegeben.
Das ist in Übersetzung auch im Wiener Bahoe-Verlag erschienen. Mehr lest ihr hier.
Anmerkung der Redaktion: Dieser Beitrag spiegelt ausschließlich die Meinung des Autors wider. Nicht die Meinung der KOSMO Redaktion.
Balkan Stories, Christoph Baumgarten

Christoph Baumgarten ist Journalist und Balkanreisender aus Leidenschaft. Seit 2015 verbindet er beide Leidenschaften auf seinem Blog Balkan Stories. Dort versucht er, Geschichten zu erzählen, für die es in größeren Medien meist keinen Platz gibt und stellt die Menschen in den Mittelpunkt.
Mehr von Christoph könnt ihr unter balkanstories.net nachlesen.
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