Aus dem bosnischen Sicherheitsministerium erreichen sensationelle Nachrichten die Welt. Die Massenemigration aus dem Balkanstaat ist im Vorjahr zu Ende gegangen. Die Nachricht dürfte nach Recherchen des kritischen Portals Buka und von Balkan Stories nur einen kleinen Haken haben. Oder zwei.
2.777.
So hoch ist laut dem bosnischen Sicherheitsministerium die Zahl der Menschen, die 2023 aus Bosnien ausgewandert sind.
Vor zehn Jahren suchten zeitweise 50.000 und mehr Bosnier pro Jahr ein besseres Leben im Ausland, vor allem in Österreich, Deutschland und der Schweiz.
Der Fortschritt, den es seitdem unbestreitbar in Bosnien gegeben hat, war nicht so groß, dass es diese Veränderungen erklären könnte.
Kurzum: Das sind sensationelle Nachrichten.
Und es sind hochoffizielle Zahlen. Wie das kritische Portal Buka berichtet, hat sie das Ministerium in einem Strategiepapier namens Migracioni profil 2023 herausgegeben.
Balkan Stories hat das Papier gefunden, und kann die Echtheit bestätigen. Die zugehörige Tabelle findet sich auf Seite 58 des Papiers.
Die Sache hat nur einen oder zwei kleine Haken.
Die Zahl stimmt nicht.
Das stellt Buka in seinem Beitrag fest.
Das stellt auch das Sicherheitsministerium in seinem eigenen Strategiepapier fest.
Mindestens sechs Mal so viele Auswanderer wie offiziell erhoben
Demnach sind laut Daten aus Slowenien und Deutschland alleine in diese beiden Staaten bis einschließlich November 2023 mindestens 12.499 aus Bosnien ausgewandert.
Und laut Statistik Austria stieg die Zahl der in Bosnien geborenen Menschen in Österreich von Ende 2022 auf Ende 2023 von 176.736 auf 178.870. Wo die Menschen zuletzt gelebt haben, geht aus der Tabelle nicht hervor.
Man darf davon ausgehen, dass nur eine Minderheit etwa aus Deutschland oder den Niederlanden nach Österreich gezogen ist. Der Großteil werden Menschen sein, die im Vorjahr aus Bosnien ausgewandert sind.
Macht alleine für Slowenien, Österreich und Deutschland mehr als 14.000 bosnische Auswanderer.
Man sieht in diesen Zahlen eine gewisse Diskrepanz.
„Eine Erhebung dieser Daten erfolgt nicht“
Daran arbeitet sich auch das Sicherheitsministerium ab.
Man könne die offizielle Zahl der Auswanderer nur anhand der Daten der Agentur für Ausweisdokumente, Meldewesen und Datenaustausch angeben. Und die zählt als ausgewandert ausschließlich die Menschen, die auch brav den bosnischen Behörden sagen, dass sie ausgewandert sind und sich aus dem Melderegister austragen lassen.
Das machen offenkundig die wenigsten.
Womit Schwarz auf Weiß festgehalten ist, was bosnische Emigranten seit Jahren sagen: Die bosnischen Bevölkerungszahlen sind wegen massenhafter Nicht-Abmeldung von Auswanderern schlicht und ergreifend falsch.
Das weiß auch jeder andere, der sich mit Bosnien beschäftigt.
„Es ist nicht möglich, die genaue Zahl der Menschen festzustellen, die Bosnien und Hercegovina verlassen, weil keine Pflicht besteht, die Ausreise zu melden, und die Erhebung dieser Daten erfolgt auch nicht“, heißt es bürokratisch-lakonisch auf Seite 57 im Strategiepapier des Sicherheitsministeriums.
3,5 Millionen Bosnier? 2,9 Millionen? Noch weniger? Nema veze!
Niemand zieht Konsequenzen daraus.
Die bosnische Behörde für Statistik etwa präsentiert auf ihrer Startseite immer noch eine Bevölkerungszahl von 3.531.159.
Die stammt aus der Volkszählung von 2013, und die war damals schon falsch.
In ihren Bevölkerungsprojektionen scheint die Behörde davon auszugehen, dass in Bosnien im Jahr 2020 etwa 2,93 Millionen Menschen lebten.
Für 2025 prognostiziert die etwas weniger als 2,6 Millionen Einwohner.
So genau lässt sich das nicht rekonstruieren. Statt der international üblichen 1.000-er Einheiten scheint die Behörde die Bevölkerung in 100-er Einheiten zu zählen. Das ist zumindest die einzige Erklärung, nach der die dargestellten Zahlen irgendeinen Sinn ergeben.
An die große Glocke hängt man das offenbar nicht gerne. Man muss schon suchen, um das zu erfahren.
Auch in den detaillierteren jährlichen Bevölkerungsstatistiken der Statistikbehörde kommen Emigration und Immigration schlicht nicht als relevante Kategorien vor. Lieber weist man eher die Zahl der internen Migration aus – auf eine Art und Weise, die jeglichen Zusammenhang vermissen lässt.
So erfahren wir, dass 2022 – dem aktuellsten vorliegenden Jahr – 30.165 Menschen innerhalb Bosniens aus einer Stadt in die andere zogen. Von wo wohin – schmecks. Siehe Seite 57 in diesem Pdf.
Auch diese Zahl erscheint eher niedrig gegriffen. Zum Vergleich: Laut Statistik Austria verlagerten 2023 834.797 Menschen ihren Wohnsitz innerhalb des Landes. Von einer Gemeinde in die andere waren das immerhin auch 386.345.
Selbst eine Schnellrechnung ergibt eine derartige Diskrepanz zwischen der bosnischen und der österreichischen Binnenwanderung, dass das mit kulturellen oder ökonomischen Unterschieden nicht mehr sinnstiftend erklärt werden kann.
Es beschleicht einen das Gefühl, dass bosnische Statistiken unvollständig sind. Um es höflich zu formulieren.
Vor drei Jahren schon wies der Demograf Aleksandar Čavić aus Banja Luka darauf hin, dass im Land nur mehr etwa 2,9 Millionen Menschen leben würden – unter Berufung auf die Daten der Statistikbehörde. Balkan Stories berichtete damals exklusiv auf Deutsch.
So alarmierend die Botschaften waren – sie könnte noch reichlich optimistisch gewesen sein. Immerhin stützten sie sich auf öffentlich vorhandene Informationen.
Auf die ist offenkundig wenig Verlass.
Bosniens Emigrationskrise ist mitnichten vorbei.
Der Auswanderungstsunami Mitte der 2010-er Jahre dürfte zu einer Auswanderungsflut abgeschwollen sein.
Ein wirklicher Trost ist das nicht.
Das Sicherheitsministerum schätzt anhand von Daten aus der Statistikbehörde, dass jährlich im Schnitt 18.200 Menschen abwandern. Das ist mehr als ein halbes Prozent der Bevölkerung.
Europas Auswanderungsland Nummer Eins
Aus keinem anderen Land Europas sind in den vergangenen 30 Jahren so viele Menschen ausgewandert wie aus Bosnien. Auch weltweit gibt es nicht viele Staaten mit einem so großen Bevölkerungsschwund dank Auswanderung.
Stellt man die bereinigten Zahlen gegenüber, könnten heute fast so viele Bosnier im Ausland leben wie in Bosnien selbst.
Dass hinterlässt nicht nur im zwischenmenschlichen Bereich Lücken.
Die Jungen und Gutqualifizierten sind die Ersten die gehen. Der bosnischen Wirtschaft gehen langsam die qualifizierten Arbeitskräfte aus.
Mit ihnen verschwinden die Zeit und das Geld, die die bosnische Gesellschaft in sie gesteckt haben. Laut dem Strategiepapier des Sicherheitsministeriums kostet jeder Mittelschulabschluss 25.000 Mark, jede Matura 40.000 und jedes Hochschuldiplom 58.000 Mark. Und mit jedem Träger eines Doktortitels oder eines Äquivalentes verlassen 80.000 Mark Ausbildungskosten das Land.
Die Zahl der Geburten sinkt rapide. Das Land überaltert. Und offenbar schneller als es den zuständigen Behörden und politisch Verantwortlichen bewusst ist.
Bosnien verschlampt seine Emigrationskrise – im vollen Bewusstsein, dass sie existiert.
Verlässliche Zahlen sind notwendig
Wie viele Menschen in Bosnien leben, scheint heute schlicht und ergreifend niemand zu wissen.
Das ist ein offenkundiges Problem.
Wie kann man irgendetwas planen, wenn man keine Ahnung hat, wie viele Leute eigentlich Bedarf haben? Hier geht es um Schulen, Spitäler, Stromnetze, Wohnungen, Behörden, Flächenwidmungen – kurzum, um so gut wie alles, wofür Politik verantwortlich ist.
Man sollte davon ausgehen, dass die politisch Verantwortlichen in Bosnien ein Interesse hätten, wenigstens halbwegs verlässliche Zahlen zu haben.
Gesamte Region in tiefer demographischer Krise
Bosniens Emigrationskrise ist die mit Abstand schlimmste selbst am Balkan. Allerdings droht den anderen Balkanstaaten ebenso der absehbare demographische Kollaps, vor allem wegen der anhaltend hohen Auswanderung.
Die Vereinten Nationen schockierten die Öffentlichkeit vor wenigen Wochen mit ihren langfristigen Prognosen.
Balkan Stories, Christoph Baumgarten
Christoph Baumgarten ist Journalist und Balkanreisender aus Leidenschaft. Seit 2015 verbindet er beide Leidenschaften auf seinem Blog Balkan Stories. Dort versucht er, Geschichten zu erzählen, für die es in größeren Medien meist keinen Platz gibt und stellt die Menschen in den Mittelpunkt.
Mehr von Christoph könnt ihr unter balkanstories.net nachlesen.
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