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REPORTAGE

Flüchtlinge aus der Ukraine: „Unser Leben teilt sich in ein Davor und ein Danach“

Irina Hrekova (36) wurde aus der Ukraine mir ihren zwei Söhnen Nikita (14) und Gleb (10 – auf dem Foto) evakuiert. (FOTO: KOSMO)

Irina Hrekova (36)
Irina ist mit ihren beiden Söhnen Nikita (14) und Gleb (10) sowie mit ihrer Schwägerin und deren beiden Kindern aus Charkiw geflohen.

„Der 24. Februar war für mich sehr anstrengend. Ich habe einen Mann und zwei Kinder, von denen eines unter dem Down-Syndrom leidet, und diese Zeit war für uns besonders schwer. An diesem Tag habe ich begriffen, dass die Probleme, die wir bisher hatten, nichts sind im Vergleich zu der Angst und der Unruhe, die jetzt in unser Leben getreten ist. Schnell packten wir die wichtigsten Dinge zusammen und flüchteten aus der Wohnung zu meiner Mutter, weil es in ihrem Gebäude einen Schutzraum gibt. Alles wirkte so unwirklich. Alle unsere Gedanken, Sorgen und Pläne waren auf einmal zu Ende, so als wäre alles vorher nur ein Traum gewesen. Mein Sohn wurde am 26. Februar zehn Jahre alt. Er wurde um 22:25 Uhr geboren und genau um diese Zeit explodierte neben unserem Haus eine Granate oder Rakete. Ich weiß nicht genau, was es war, aber damals begann die Zerstörung von Wohngebäuden. Bis dahin hatten wir bereits begonnen, einen Schutzraum im Gebäude meiner Mutter instand zu setzen, der voller Staub und Schimmel war. Später drehten sie uns das Licht ab und dann auch den Strom und das Wasser. Mir war in diesem ganzen Chaos und in der Angst am wichtigsten, dass wir alle zusammen waren. Die Tage vergingen, indem wir in den Schutzraum rannten und in die Wohnung zurückkehrten. Am achten Tag, als sich der Krieg auch in andere Regionen ausweitete und uns einzuschließen drohte, rief uns mein Mann an und sagte, wir müssten das Land verlassen. Das war schrecklich, denn ich wollte nirgendwohin gehen, sondern mit meiner Familie dableiben. Nie im Leben wollte ich mein Land, meine Stadt verlassen. Aber die Situation entwickelte sich so, dass wir keine andere Wahl mehr hatten.”

Ich wollte nirgendwohin gehen, sondern mit meiner Familie dableiben. Nie im Leben wollte ich mein Land, meine Stadt verlassen.

Irina Hrekova

So machten sich Irina, die Frau ihres Bruders und vier Kinder auf den Weg ins Ungewisse. „Mein Vater brachte uns zum Bahnhof. Auf dem Weg zum Bahnhof beeilten wir uns aus Furcht, genau in dem Moment könnte eine Bombe fallen und uns alle töten, weil wir in der Nähe der Front sind. Am Bahnhof wartete eine enorme Menschenmenge. Genau in diesem Moment gab es einen Luftalarm und wir konnten vor lauter Menschen nirgendwo hin. Über uns flogen Flugzeuge. Wir legten uns am Bahnhof auf den Boden, hielten uns die Ohren zu und warteten, dass der Angriff vorüberging. Aufgrund des Luftalarms wollte man uns nicht in den Zug lassen und wir alle weinten fürchterlich und baten, einsteigen zu dürfen. Schließlich gelangten wir in den Zug und fuhren 22 Stunden bis nach Lwiw. Gleb war sehr müde und der einzige Platz zum Schlafen war neben der Toilette. Während der Reise wurde ihm schlecht. In dem Moment kam es mir vor, als beobachtete ich irgendein fremdes Leben, nicht mein eigenes. In Lwiw gab man uns im Roten Kreuz etwas zum Essen, wir tranken Tee und warteten auf einen Evakuierungsbus. So kamen wir in einem bequemen Bus sehr schnell zur polnischen Grenze. Dort wurden wir in Empfang genommen und verbrachten zwei Tage in einem Zentrum in Polen, in dem wir erfasst wurden. Wir alle weinten, als wir dort ankamen. Wir konnten nicht glauben, dass man uns so herzlich aufnehmen würde. Nicht nur, dass sie uns Essen und Wasser gaben, sondern auch Unterwäsche. Das war für uns wie ein Geschenk des Himmels. Sie müssen verstehen, dass wir unsere Wohnungen in dem verlassen hatten, was wir gerade trugen, und dass wir nur die wichtigsten Dinge eingepackt hatten. Aus diesem Zentrum brachte man uns in ein Hostel in der Stadt Jaroslav, 40 km von der ukrainischen Grenze entfernt. Als der Angriff auf Lwiw begann, wurde uns klar, dass wir noch weiter fliehen müssten”, berichtet uns die tapfere Mutter zweier Kinder.

Ich fürchte mich vor den Folgen, mit denen wir aus all dem hervorgehen werden.

Irina Hrekova

Als die beiden Mütter mit ihren Kindern nach Österreich kamen, wurden sie von der Organisation ICDO empfangen.
„Die ICDO half uns, eine Familie zu finden, die uns in ihrer Wohnung aufnahm. Möge Gott ihnen allen Gesundheit geben! Ich hätte nicht geglaubt, jemals so gute und selbstlose Menschen wie die ICDO-Helfer und unsere Gastgeber Julie und Paul zu treffen. Nicht nur, dass sie uns helfen, sondern sie bemühen sich auch, Glebs Tage zu verschönern. Wenn ich mit meiner Familie telefoniere, sage ich ihnen immer, dass ich hier im Paradies gelandet bin. Vielleicht bin ich gestorben und bin wirklich im Paradies. Es ist so, als ob sich mein Leben nun in zwei Teile teilt: vorher und nachher. Ich kann all das Schlimme und all das Gute, das ich in diesen Tage erlebt habe, noch immer nicht fassen.”

Für Irina war jeder Tag wie eine eigene Geschichte. „Ich kann sagen, dass wir alles haben, denn wir haben unser Leben. Aber es ist schwer für mich, dass meine ganze Familie in der Ukraine zurückgeblieben ist. Ich telefoniere mit ihnen und sie alle leben noch immer zusammen und gehen in den Schutzkeller. Derzeit haben sie Strom, aber kein Wasser”, erzählt uns die Mutter eines Kindes mit Down-Syndrom, deren ganzes Leben vor zehn Jahren schon einmal auf den Kopf gestellt wurde.

Wenn ich mit meiner Familie telefoniere, sage ich ihnen immer, dass ich hier im Paradies gelandet bin. Vielleicht bin ich gestorben und bin wirklich im Paradies.

Irina Hrekova

„Meine wichtigste Frage ist, wann der Krieg enden wird. Psychisch sind die Kinder und ich schwer getroffen. Wir wollen nie im Leben wieder das Geräusch von Bomben, Flugzeugen, Raketen und Einschlägen hören. Mein älterer Sohn hat gesagt, dass er nie mehr in seinem Leben ein Feuerwerk sehen möchte. Das ist für uns ein Trauma für das ganze Leben. Ich fürchte mich vor den Folgen, mit denen wir aus all dem hervorgehen werden. Viele Familien mit Kindern mit dieser Erkrankung haben mich aus der Ukraine angerufen. Ich sage allen, sie sollen keine Angst haben, das Land zu verlassen. Es ist möglich und es ist sogar unbedingt nötig. Es ist schwerer, dort zu bleiben und sich zu fürchten, als seinen Mut zusammenzunehmen und zu gehen. Dort ist es gefährlich, auf dem Weg ist es gefährlich, aber wenn sie ans Ziel kommen, ist es nicht mehr gefährlich, sondern sicher. Das ist die Chance zu überleben und zu leben. Viele haben sich mit ihrem Schicksal abgefunden und aufgegeben. So habe ich auch gedacht, aber jetzt habe ich gesehen, dass es möglich ist, auch in so einer Situation, die einem aufgezwungen ist, die Dinge selbst in die Hand zu nehmen. Und daher unterstütze ich alle, die sich in Sicherheit bringen. Allen Müttern rate ich zu gehen, und wenn es irgendwie möglich ist, sollten wir alle irgendwo zusammenkommen, damit unsere Kinder den Kontakt nicht verlieren. Am Ende möchte ich mich bei allen bedanken, die ein fremdes Volk wie ihr eigenes aufgenommen haben. Danke Österreich, danke Wien und danke ICDO.”

Es ist schwerer, dort zu bleiben und sich zu fürchten, als seinen Mut zusammenzunehmen und zu gehen. Dort ist es gefährlich, auf dem Weg ist es gefährlich, aber wenn sie ans Ziel kommen, ist sicher. Das ist die Chance zu überleben und zu leben.

Quelle: Irina Hrekova
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Nachdem sie ihr Bachelorstudium an der Fakultät für Politikwissenschaften in Belgrad abgeschlossen hat, begann Aleksandra ihre journalistische Karriere bei der Tagespresse in Serbien, wo sie bis zu ihrem Master-Abschluss gearbeitet hat. Letztes Jahr verschlug es die wissbegierige Serbin schließlich nach Wien. Jetzt lebt sie ihre Leidenschaft für Journalismus als Redakteurin des KOSMO-Magazins aus. Stets professionell und mit viel Interesse, berichtet sie über aktuelle politische und gesellschaftliche Themen. In ihrer Freizeit liest die Politologin am liebsten ein Buch, oder entdeckt auf ihrem Fahrrad neue Orte in Wien.