REPORTAGE

Flüchtlinge aus der Ukraine: „Unser Leben teilt sich in ein Davor und ein Danach“

Natalia Mazanek (22) war die erste aus ihrer Familie, die das Land verlassen und ihre Schwester und Mutter auch dazu überredet hat. Jetzt hilf sie ihnen, im neuen Land zurecht zu kommen. (FOTO: KOSMO)

Natalia Mazanek (22)
Natalia zog 2016 aus ihrer Heimatstadt Tschornomorsk nach Kiew, wo sie Journalistik mit der Fachrichtung Werbung und Öffentlichkeitsarbeit studierte, zu arbeiten begann und sich eine Karriere aufbaute. Aber am 24. Februar beendeten Bomben ihr Leben ebenso wie auch das vieler ihrer Landsleute. Weit entfernt von der Familie, die noch immer in Tschornomorsk lebt, musste Natalija allein einen Weg finden, zu überleben.

„Mir war sofort klar, dass ich Kiew verlassen musste und dass ich das nicht allein tun durfte, weil es für eine junge Frau wie mich nicht sicher war. Darum habe ich entfernte Verwandte kontaktiert, von denen ich wusste, dass sie auch in Kiew lebten. Am ersten Kriegstag habe ich meine Ratte Proxy genommen, meine gemietete Wohnung verlassen, bin zu den Verwandten in einen anderen Stadtteil gefahren und habe neun Tage bei ihnen gewohnt. Am neunten Tag begann die Evakuierung und ich habe einen Zug von Kiew nach Lwiw gefunden. Es war ein kleiner elektrischer Zug, in dem es weder WCs noch Beleuchtung gab. Statt sieben sind wir 12 Stunden gefahren, von 16 Uhr bis 4 Uhr früh am nächsten Tag, denn dieser Zug war für längere Strecken überhaupt nicht geeignet. Die meisten Leute hatten keinen Sitzplatz, denn wir waren zu viele. Sie sind die ganzen 12 Stunden gestanden. Ich hatte zum Glück einen Koffer, auf dem ich sitzen und mich an die Waggonwand anlehnen konnte. Kinder weinten und wollten ihre Väter sehen, die in der Ukraine zurückgeblieben sind. Viele waren in Panik, einigen wurde sogar schlecht. Es war sehr stressig und anstrengend, aber ich wusste, dass andere Menschen viel schlimmer dran sind als ich”, erzählt uns Natalia, die sich trotz des erlittenen Stresses viel Mut und Stabilität bewahrt hat.

„Als wir am folgenden Morgen in Lwiw ankamen, war es schrecklich kalt und es gab keinen Platz, wo wir uns aufwärmen konnten außer im Bahnhofsgebäude, das nicht groß genug für alle war. Wir konnten nirgendwo anders hingehen, denn zu dieser Zeit galt noch eine Sperrstunde. Um sechs Uhr früh kam dann ein Mann, mit dem wir verabredeten, dass er uns über die Grenze bringen sollte.”

Natalia kam am 7. März in den Abendstunden gemeinsam mit ihren Verwandten über die Slowakei nach Österreich. Drei Tage später kamen auch ihre Mutter und ihre jüngere Schwester nach. „Die beiden kamen nur, weil ich ihnen die Bedingungen gestellt habe. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass nur ich mich in Sicherheit bringen und den Rest meiner Familie im Krieg lassen würde, wenn sie schon die Möglichkeit hatten, zu flüchten. Ich habe meine Mama angerufen und ihre gesagt: ’Mama, wenn du mir versprichst, dass auch ihr nachkommt und dass wir uns in einem anderen Land treffen, werde ich Kiew und die Ukraine verlassen.’”

Ich konnte mir kein Leben außerhalb der Ukraine vorstellen

Natalia Mazanek

Sie berichtet, dass es keinen konkreten Moment gab, in dem sie beschloss, ihre Heimat zu verlassen. Die Entscheidung ist über Tage gereift und wurde immer fester, als sich die Situation von Tag zu Tag verschlechterte. „Ich konnte mir kein Leben außerhalb der Ukraine vorstellen. Ich dachte, dass das alles nach einigen Tagen wieder vorbei sein wird. Als ich sah, dass einige Tage nicht ausreichen würden, um diese Situation zu beenden, und dass es in diesem Moment am sichersten wäre, wegzugehen, habe ich angefangen, darüber nachzudenken. Das zu begreifen, ist mir schwergefallen. Ich habe viel geweint, bis ich es akzeptiert hatte. Dann war mir auf einmal klar, dass ich bis zur nächsten Entscheidung vielleicht gar nicht mehr am Leben sein würde, und ich habe aufgehört zu planen und nur noch Entscheidungen für einen Tag getroffen. Auch jetzt kann ich nicht sagen, dass ich beschlossen habe, mein ganzes Leben außerhalb der Ukraine zu verbringen. Ich war mit einem Freund aus meiner Heimatstadt in Kontakt, der in Wien wohnt und als freiwilliger Helfer für die Organisation ICDO arbeitet. Er hat mich überredet, nach Österreich zu kommen. Er sagte mir, dass es das Beste wäre, mich hier mit meiner Schwester und meiner Mutter zu treffen und dann in Ruhe zu entscheiden, wohin wir gehen wollen und was wir weiter tun.”

Es war mir auf einmal klar, dass ich bis zur nächsten Entscheidung vielleicht gar nicht mehr am Leben sein würde, und ich habe aufgehört zu planen und nur noch Entscheidungen für einen Tag getroffen.

Natalia Mazanek

Natalia lebt jetzt gemeinsam mit ihrer Mutter und ihrer Schwester bei einer wunderbaren Familie, die ihnen die Organisation ICDO vermittelt hat. „Ich bin begeistert von der Güte unserer Gastgeber, die uns wunderbar aufgenommen haben. Die Eltern sprechen Französisch und Italienisch, und sie haben zwei tolle Töchter. Bei ihnen herrscht ein Gefühl der Ruhe, Freiheit und Harmonie. Die Kinder gehen um acht Uhr abends brav ins Bett, und so haben auch wir durch sie viel Disziplin angenommen (lacht). Diese Disziplin tut mir sehr gut, denn auf der Reise nach Österreich habe ich meinen Rhythmus und meine Routinen ganz verloren. Jetzt hilft es mir, dass ich besser über mein Leben während und nach dem Krieg nachdenken kann und bereits beginne, ein bisschen Ordnung hineinzubringen. Wien ist eine sehr schöne Stadt und ich hätte nie geglaubt, dass ich einmal hier leben würde. Meine erste Reaktion nach unzähligen Tränen und der schweren Reise war Bewunderung für die Schönheit der Stadt. Aber die zweite Reaktion war Scham, weil ich sie bewundere und das genieße, während in meinem Land Krieg herrscht. In der Ukraine würde ich jetzt wie eine Gefangene unter den Bomben leben. Von hier aus kann ich mit Menschen Kontakt aufnehmen und über diese Kontakte meinem Volk in der Ukraine helfen”, so hören wir Natalia bewegt sagen und können nicht glauben, dass sie in ihrem so jungen Alter schon über so viel Klugheit und Kraft verfügt.

Meine erste Reaktion nach unzähligen Tränen und der schweren Reise war Bewunderung für die Schönheit der Stadt. Aber die zweite Reaktion war Scham, weil ich sie bewundere und das genieße, während in meinem Land Krieg herrscht.

Natalia Mazanek

„Unser Leben teilt sich jetzt wirklich in ein Davor und ein Danach. Und beide Leben kommen mir im Moment wie ein Traum vor. Wie ein Roman, der anderen passiert, aber nicht uns. Als ob es sich um fantastische Literatur handeln würde. Mir ist klar, dass es in der gegenwärtigen Situation keine richtigen und falschen Entscheidungen gibt. Jeder muss für sich entscheiden, ob er bleiben oder gehen will, und man muss ihn in seiner Entscheidung unterstützen. Jeder hat seine Gründe. Jetzt können wir einander nur helfen und zusammenhalten. In Wien habe ich gemerkt, dass Unterstützung nicht nur von den ukrainischen Emigranten kommt, sondern von der ganzen internationalen Gemeinschaft. Der Internationalen Gemeinschaft möchte ich sagen, dass ich bessere Lösungen erwarte. Ich sehe, was passiert und dass unschuldige Menschen, unschuldige Kinder sterben, dass mein Staat und Kiew, das in den letzten fünf Jahren meine Heimat, meine Stadt, war, von der Landkarte verschwinden und ich kann nicht verstehen, warum. Ist es für Politiker und Diplomaten so schwer, sich in unsere Lage zu versetzen? Können sie wirklich nicht verstehen, wie wir uns fühlen? Es werden weltweit viele Protestaktionen gegen den Krieg veranstaltet und ich würde mir wünschen, dass diese Menschen zumindest für eine Minute angehört würden. Meinem Volk möchte ich, egal wo es sich gerade befindet, sagen, dass wir stark sein müssen und unser Leben weiterleben müssen, egal wo wir sind, denn das Leben geht weiter. Wir müssen uns bewusst sein, dass der Krieg nicht ewig dauern wird und dass wir positiv bleiben und zusammenhalten müssen und dass wir der Welt sagen müssen, dass wir stolz sind, Ukrainer zu sein. Und was Russland betrifft: Ich hoffe, dass sie zur Vernunft kommen und ihrem gesunden Verstand folgen werden. Viele Ukrainer würden mich dafür verurteilen, dass ich ihnen nichts Schlechtes wünsche und sie nicht hasse, aber das ist mein persönlicher Mechanismus, um durchzuhalten. Wenn ich von Hass erfüllt wäre, wäre ich wahrscheinlich kein Mensch mehr. Ich bin mir bewusst, dass auch ihre Leben aufgrund dieses Krieges nicht schön sind und sich noch verschlechtern werden, so wie es jetzt für uns schrecklich ist. Dieses Gefühl hat niemand verdient.”

Meinem Volk möchte ich, egal wo es sich gerade befindet, sagen, dass wir stark sein müssen und unser Leben weiterleben müssen, egal wo wir sind, denn das Leben geht weiter. Wir müssen uns bewusst sein, dass der Krieg nicht ewig dauern wird.

Natalia Mazanek

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Nachdem sie ihr Bachelorstudium an der Fakultät für Politikwissenschaften in Belgrad abgeschlossen hat, begann Aleksandra ihre journalistische Karriere bei der Tagespresse in Serbien, wo sie bis zu ihrem Master-Abschluss gearbeitet hat. Letztes Jahr verschlug es die wissbegierige Serbin schließlich nach Wien. Jetzt lebt sie ihre Leidenschaft für Journalismus als Redakteurin des KOSMO-Magazins aus. Stets professionell und mit viel Interesse, berichtet sie über aktuelle politische und gesellschaftliche Themen. In ihrer Freizeit liest die Politologin am liebsten ein Buch, oder entdeckt auf ihrem Fahrrad neue Orte in Wien.