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REPORTAGE

Flüchtlinge aus der Ukraine: „Unser Leben teilt sich in ein Davor und ein Danach“

Flüchtlinge aus der Ukraine: "Unser Leben teilt sich in ein Davor und ein Danach" (FOTO: KOSMO)

„Im Krieg gibt der Staat Kanonen, die Reichen geben Ochsen und die Armen ihre Söhne. Wenn der Krieg zu Ende ist, nimmt der Staat seine Kanonen, die Reichen nehmen ihre Ochsen und die Armen zählen ihre Gräber”, besagt eine alte Balkan-Volksweisheit. Im Krieg der Reichen und Mächtigen leiden die Armen, die machtlosen Zivilisten, die gezwungen sind, im Krieg ihr Leben zu opfern oder ihr ganzes Leben in einen Koffer zu packen und alles zurückzulassen, was sie sich über die Jahre aufgebaut haben. Darüber, wie das Leben weitergeht, wenn der Krieg begonnen hat, hat KOSMO mit Flüchtlingen aus der Ukraine gesprochen, die in Wien Zuflucht gefunden haben, und mit jenen, die ihnen geholfen haben, sich wieder sicher zu fühlen.

Für den Morgen des 24. Februar hatten die Bewohner der Ukraine keine besonderen Pläne. Sie hätten aufstehen müssen, sich waschen, für die Arbeit, Schule oder Universität bereit machen und ihren Pflichten nachgehen. Stattdessen wurden viele von Sirenen und Bomben geweckt. Die russische Invasion hatte begonnen. Einige militärische Entscheidungen Moskaus beendeten für die einen die Kindheit, vertrieben wieder die anderen aus ihren Häusern, schickten einige an die Front, um das zu verteidigen, was vor einer halben Stunde noch ihnen gehört hatte, und sandten viele mit ihren Habseligkeiten in der Hand auf einen Weg ins Ungewisse.

Im ersten Monat des Krieges haben geschätzt über drei Millionen Menschen die Ukraine verlassen, darunter vor allem Frauen und Kinder, aber auch Alte und Kranke. Den Männern jedoch ist die Suche nach einem neuen, ruhigeren Leben verwehrt, da eine allgemeine Mobilmachung der wehrpflichtigen Bevölkerung gilt. Während einige gleich in den umliegenden Ländern blieben, fanden andere erst in Wien und anderen österreichischen Städten eine Art neuen Friedens. Auf der Suche nach Frieden fanden mehr als 3.500 Menschen ukrainischer Herkunft in dem Hilfsprogramm der Wiener Nichtregierungsorganisation International Cultural Diversity Organisation (IDCO) Hilfe und sind derzeit in Sicherheit.

Von der Ukraine nach Wien
„Alle haben genau verfolgt, was in der Ukraine passierte, und gehofft, dass es nicht zu dieser Eskalation der Gewalt kommen würde. Da wir bereits vorher in Kontakt mit unseren Beratern waren, kannten wir die Situation und alles, was dort passierte, genau. Menschen, die noch in der Ukraine waren, haben angefangen, sich bei uns zu melden, weil sie das Land verlassen wollten, aber unsicher waren, was passieren würde und wie das gehen sollte. Sie fragten uns, ob wir ihnen helfen könnten. Die ersten Fragen, die sie uns stellten, betrafen einen sicheren Fluchtkorridor, auf dem sie herauskommen könnten. So einen sicheren Korridor gab es in den ersten Kriegstagen nicht. Er wurde erst jetzt im Einvernehmen zwischen Russland und der Ukraine eingerichtet. Darum haben wir mit Hilfe unserer Kontakte koordinieren müssen, wie die Leute die Ukraine am sichersten verlassen konnten. Gleichzeitig mussten wir die Arbeit mit unseren freiwilligen Helfern an den Grenzen koordinieren, denn damals gab es noch keine kostenlose Beförderung. Wir haben die Menschen nach Wien gebracht, denn wir sind hier gut vernetzt und wissen, wo wir alle, die kommen, sicher unterbringen können”, sagt Josipa Palac, Präsidentin von ICDO, im Gespräch mit KOSMO.

Die Organisation ICDO half mehr als 3.500 Flüchtlingen.

Neben der Sorge um die täglichen Kriegsereignisse fürchteten die Menschen, die die Ukraine verlassen hatten, auch Betrüger, die sie an den Grenzen abpassten.

„Wie sahen, dass die Frauen, die ankamen, verängstigt waren. Es war vorgekommen, dass ihnen jemand eine Beförderung anbot, die aber in Wirklichkeit ein Betrug bzw. eine Art Menschenhandel war. Bis vor einigen Tagen gab es 3.000 solcher Fälle, und die Zahl wird leider täglich größer. Darum ist uns Sicherheit so wichtig, denn wir wissen, was bisher alles passiert ist, und darum überprüfen wir auch alle, die uns Unterkünfte anbieten, sowie auch alle Flüchtlinge, die kommen. Als Organisation haben wir ein Protokoll und wir wissen, welche Fragen wir stellen müssen. Nachdem wir eine Unterkunft für Geflüchtete finden, verfolgen wir die Entwicklung auch weiter, damit es nicht vielleicht am zweiten oder dritten Tag zu Problemen kommt”, sagt Josipa und fügt hinzu: „Wir haben vor allem Frauen und Kinder aufgenommen. Wir haben auch ein paar Männer, die schon älter sind oder irgendwelche Schwierigkeiten haben. Daher ist es uns sehr wichtig, dass sie sich nach all den Traumata in Österreich wie zu Hause fühlen.”

„Niemand von den Geflüchteten möchte unbeschäftigt sein und anderen zur Last fallen”, so Josipa. (FOTO: KOSMO)

Jetzt, einen Monat nach dem Beginn des Krieges, wurden regelmäßige Bus- und Zugverbindungen von der ukrainischen Grenze nach West- und Zentraleuropa eingerichtet, aber trotz dieser Maßnahme fehlt es an Menschen, die den Prozess koordinieren. „Es ist vorgekommen, dass Menschen 24 Stunden lang nichts zu essen hatten, als sie an der Grenze warteten.”

Es ist vorgekommen, dass Menschen 24 Stunden lang nichts zu essen hatten, als sie an der Grenze warteten

Josipa Palac

Es gibt noch immer gute Menschen
„Die Menschen aus der Ukraine wissen nicht, wie lange sie hier bleiben werden. Die Unterkünfte, die wir finden, sind unterschiedlich lange verfügbar. Einige für einen Monat, andere für sechs Monate und wieder andere kurzfristig. Die Unterbringung im Hotel ist kurzfristig. Das geht nur für drei Tage oder bis zu einer Woche. Wir danken den Hotels, die mit uns zusammenarbeiten, aber dies ist weder für die Menschen noch für uns eine langfristige Lösung. Mit den einzelnen Menschen jedoch, die in Wien, aber auch in Polen, Kroatien und Ungarn leben, haben wir noch sehr gute Erfahrungen gemacht. Dass wir so gut zusammenarbeiten können, beruht auf dem Vertrauen, das wir aufbauen, und einer guten Koordination zwischen den Menschen. Nachdem wir Unterkunft gefunden haben und die Familien angekommen sind, helfen wir ihnen mit den wichtigsten bürokratischen Dingen wie der Anmeldung (Meldezettel), aber auch damit, kulturelle Unterschiede zu überwinden. Wichtig ist, dass die aufnehmende Familie, aber auch die ankommende sich dieser Unterschiede bewusst sind, damit alles möglichst reibungslos verläuft”, so Josipa. Wir erfahren auch, dass die Unterbringung größerer Familien am schwersten ist.

Wie werden sie jetzt Teil der Gesellschaft?
Nach den Worten der ICDO-Vertreterin sind sich viele Leute noch nicht bewusst, wohin sie gekommen sind und was sie alles zurückgelassen haben.

„Nicht selten erzählen sie uns davon, was sie zurückgelassen haben, aber im Grunde sind sie sehr dankbar und können nicht verstehen, dass ihnen so viele Menschen helfen wollen. Sie fragen sich, ob sie die anderen Menschen nicht stören, denn sie sind Leute, die andere nicht gerne stören möchten. Alle, die gekommen sind, von den Älteren bis zu den Jüngeren, haben gefragt: ’Was können wir jetzt tun? Können wir etwas helfen?’ Viele von ihnen haben uns angeboten, uns bei der Organisation zu helfen. Niemand von diesen Frauen und Kindern möchte unbeschäftigt sein und anderen zur Last fallen. Sie wollen sich einfach nützlich machen, denn dies sind Menschen, die bis vorgestern ein eigenes Leben hatten, gearbeitet haben. Viele von ihnen sind hochgebildet. Darum haben wir als Organisation einige größere Firmen kontaktiert, um zu sehen, ob sie jemanden beschäftigen können. Natürlich können wir nicht für alle Menschen, die wir aufgenommen haben, Beschäftigungen organisieren, aber wir können versuchen, zumindest einige Arbeitsplätze zu finden, die denen ähnlich sind, in denen sie früher gearbeitet haben. Ich möchte auch an die Regierung appellieren, aktiv zu werden, denn wir bringen jetzt Menschen unter. Bis sie keine offizielle Unterkunft angeboten bekommen haben und sich nicht registrieren konnten, können sie keine Sozial- und Krankenversicherung bekommen. Sie wissen noch immer nicht, wo sie ihre Kinder in die Schule schicken können, aber die Kinder müssen in die Schule gehen. Hier ist Eile ebenso geboten wie auch eine gute Koordination!”

Der Staat hat gute Maßnahmen ergriffen, aber Probleme wie die Unterbringung muss man sofort lösen.

Josipa Palac

Einer offiziellen EU-Verordnung zufolge haben alle Menschen, die die Ukraine seit Kriegsbeginn verlassen haben und die die ukrainische Staatsbürgerschaft besitzen, in den Ländern der EU bis zum 3. März 2023 einen geschützten Status, der ihnen in der EU ein Recht auf Aufenthalt, Sozial- und Krankenversicherung, Zugang zum Arbeitsmarkt und den Schulbesuch gibt, aber der ganze Prozess der Anmeldung macht in der Praxis noch Probleme. Ursprünglich wurde auf der Website der Stadt Wien bekanntgegeben, dass sich Flüchtlinge im 22. Bezirk anmelden könnten, was einige auch geschafft haben, aber dann wurde ihnen überraschend mitgeteilt, dass sie den ganzen Prozess noch einmal wiederholen müssten.
Obwohl die Regierungsmaßnahmen nach Ansicht der ICDO-Vertreterin sehr gut konzipiert sind, fehlen in der Praxis Einzelheiten: „Wir appellieren wegen der Dringlichkeit. Der Staat hat gute Maßnahmen ergriffen, aber Probleme wie die Unterbringung muss man sofort lösen. Langfristigkeit ist auch wichtig, denn so können sich diese Menschen am besten erholen, wenn sie eine Basis haben, von der aus sie weitermachen können”, schließt Josipa.

Wie das Leben der Geflüchteten in der Praxis aussieht, haben uns Natalija und Irina berichtet, zwei Frauen, deren Welt über Nacht zusammengebrochen ist, die aber nicht aufgeben, sondern versuchen, von Null wieder zu starten.

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Nachdem sie ihr Bachelorstudium an der Fakultät für Politikwissenschaften in Belgrad abgeschlossen hat, begann Aleksandra ihre journalistische Karriere bei der Tagespresse in Serbien, wo sie bis zu ihrem Master-Abschluss gearbeitet hat. Letztes Jahr verschlug es die wissbegierige Serbin schließlich nach Wien. Jetzt lebt sie ihre Leidenschaft für Journalismus als Redakteurin des KOSMO-Magazins aus. Stets professionell und mit viel Interesse, berichtet sie über aktuelle politische und gesellschaftliche Themen. In ihrer Freizeit liest die Politologin am liebsten ein Buch, oder entdeckt auf ihrem Fahrrad neue Orte in Wien.