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EXPERTENMEINUNG

Kinder als Dolmetscher (Teil 4): „Der beste Arzt hilft nichts, wenn bei der Dolmetschung Fehler passieren“

Mira-Kadric-Scheiber
(FOTO: Zentrum für Translationswissenschaft)

Es kommt sehr oft vor, dass Migrantenkinder in Österreich für ihre Eltern in unterschiedlichen staatlichen Behörden und Institutionen dolmetschen oder übersetzen müssen, weil ihre Eltern der deutschen Sprache nicht ausreichend mächtig sind. KOSMO fragte Expertin, Univ.-Prof.Mag. Dr. Mira Kadrić-Scheiber, Professorin für Dolmetschwissenschaft und Translationsdidaktik am Zentrum für Translationswissenschaft (Universität Wien), wie anstrengend die Rolle eines Dolmetschers für ein Kind sein kann, worin die Gefahr liegt, wenn Laien zum Einsatz kommen, und ob Dienste von Dolmetschern in österreichischen Behörden zu selten in Anspruch genommen werden.

KOSMO: Wenn wir das Simultandolmetschen ausschließen und nur an das Konsekutivdolmetschen denken, das bei einem Arztbesuch stattfindet, was unterscheidet eigentlich einen ausgebildeten und einen nicht-ausgebildeten Dolmetscher?

Univ.-Prof.Mag. Dr. Mira Kadrić-Scheiber: Ausgebildete Dolmetscherinnen sind Expertinnen, deren Kompetenz nicht nur die ausgezeichnete Beherrschung von mindestens zwei Sprachen in verschiedenen Fachbereichen umfasst, sondern auch ein Instrumentarium an Techniken, Fähigkeiten, Fertigkeiten und Gedächtnisstützen, sodass sie die komplexesten Sachverhalte richtig und vollständig dolmetschen können. Sie kennen die Behörden und Institutionen, sowie ihre Fachsprachen. Sie können in der Situation abschätzen, wann ein fachsprachlicher Ausdruck gegen einen allgemeinsprachlichen ausgetauscht wird, damit die Verständigung reibungslos von statten geht. Bei Arztbesuchen z. B. dolmetschen etwa in der Regel Familienmitglieder, darunter Kinder, und Freunde der Patientinnen und Patienten, die einerseits mit dem Dolmetschen an sich überfordert, andererseits aber emotional involviert sind und diese doppelte Herausforderung selten bewältigen können. In anderen Situationen dolmetschen Kollegen oder Reinigungskräfte, die allesamt mit der Aufgabe überfordert sind.

„Während der Dolmetschausbildung perfektioniert man nicht nur die Sprachkenntnisse für verschiedene Fachbereiche, sondern lernt eine Fülle von Techniken, damit man auch lange oder komplizierte Texte vollständig und richtig übertragen kann.“

Kann ein ausgebildeter Dolmetscher besser dolmetschen, als eine Person, die im deutschsprachigen Raum geboren und zweisprachig aufgewachsen ist und beide Sprachen sehr gut beherrscht?

Das sind zwei verschiedene Dinge. Sprachbeherrschung ist nur ein Teil der Dolmetschkompetenz. Die Dolmetschausbildung dauert an den Universitäten nicht umsonst mehrere Jahre. Man perfektioniert nicht nur die Sprachkenntnisse für verschiedene Fachbereiche, sondern lernt eine Fülle von Techniken, damit man auch lange oder komplizierte Texte vollständig und richtig übertragen kann. Personen mit bloßen Sprachkenntnissen scheitern bei den „einfachsten“ Dolmetschaufgaben, z.B. wenn es darum geht, Schmerzen zu beschreiben: ziehend, stechend, brennend, hell, dumpf, klopfend… Und man lernt in der Ausbildung, mit schwierigen Situationen umzugehen, etwaige Missverständnisse frühzeitig zu erkennen und aufzuklären, oder auch mit eigenen Emotionen richtig umzugehen.

„Studien zeigen, dass Laien in schwierigen Situation Textteile auslassen, mutmaßen, raten oder einfach die Aussage als „nicht wichtig“ wiedergeben.“

Die ausgebildeten DolmetscherInnen beherrschen zwar die notwendige Dolmetschtechnik, aber sind sie der Sprache wirklich mächtiger als Laien, vor allem wenn es um Fachtermini geht? In der universitären Ausbildung gibt es zwar Schwerpunkte, aber keine ausreichende Spezialisierung für unterschiedliche Dolmetschmodi…

Die ausgebildeten DolmetscherInnen sind ExpertInnen, die ihr Fach umfassend beherrschen. Sie arbeiten nicht nur mit der Standardsprache auf einem hohen Niveau, sondern auch mit Fachsprachen. Sie kennen kommunikative Gewohnheiten, kulturelle Nuancen, und berücksichtigen ethische Fragen. Sie wissen auch, wie man sich in einem bisher nicht so bekannten Fachgebiet auf die Dolmetschung gut vorbereitet. Mit wichtigen Einsatzbereichen und Fachsprachen sind ausgebildete DolmetscherInnen vertraut, sie kennen etwa das österreichische Gesellschafts-, Rechts- oder Gesundheitssystem in seinen Grundzügen. Die professionelle Dolmetscherin wird darauf aufmerksam machen, wenn sie selbst etwas nicht versteht, bzw. vielleicht von vornherein den Auftrag an eine Kollegin weitergeben, wenn es sich um ein sehr spezielles Fach handelt. All diese Möglichkeiten haben Laien nicht. Studien zeigen, dass sie in schwierigen Situation Textteile auslassen, mutmaßen, raten oder einfach die Aussage als „nicht wichtig“ wiedergeben.

Kann sich das Dolmetschen seitens einen Laien negativ auf die ärztliche Behandlung auswirken und, falls ja, inwiefern?

Ja, natürlich! Und das kommt regelmäßig vor. Laien beherrschen die Fachsprache nicht und sie erkennen auch nicht, wo Quellen für Missverständnisse und Fehler liegen. Der Laie kann auch mit dem Zeitdruck, der in den meisten Situationen besteht, nicht umgehen und übersetzt im Zweifel mit ihm naheliegenden Formulierungen, die aber entscheidende Abweichungen haben können, oder lässt viel aus. Die Art, wie ein Patient die Schmerzen beschreibt, oder die korrekte Wiedergabe von Vorerkrankungen, beeinflusst die Diagnose. Jeder kleine Fehler kann hier große Folgen haben. Zum Beispiel, wenn der Arzt auf Grund falscher Dolmetschungen die Diagnose falsch stellt. Und die emotionale Belastung ist eine weitere Fehlerquelle.

„Kinder tragen eine zu hohe Verantwortung. Passieren dann noch Fehler beim Dolmetschen, die vielleicht schwerwiegende Folgen haben, dann machen sich Kinder, die dolmetschen mussten, zusätzlich Vorwürfe.“

Welche Nachteile bestehen noch? Können die Beziehungen zu ihren Familienmitglieder auch betroffen werden?

Es gibt bereits viele Studien, die die negativen Folgen beschreiben, wenn Kinder und Angehörige als DolmetscherInnen eingesetzt werden. Eltern würden Kinder im Regelfall bestimmten Situationen nicht aussetzen; man nimmt Kinder und Jugendliche normalerweise nicht zum Arzt mit, wenn es um eine Krebsdiagnose geht; auch nicht zu einer strittigen Scheidungsverhandlung oder einer Strafverhandlung. Für Kinder ist die bloße Anwesenheit in solchen Situationen normalerweise eine Belastung oder Überforderung; soll das Kind dann auch noch für die Dolmetschung sorgen, von der für die Eltern viel abhängt, wird die Situation vollends kritisch. Werden Kinder jahrelang solchen Situationen ausgesetzt, dann hat das Folgen für die einzelnen Personen und für die Familie insgesamt. Kinder tragen eine zu hohe Verantwortung und dies belastet in der Regel alle Beteiligten. Passieren dann noch Fehler beim Dolmetschen, die vielleicht schwerwiegende Folgen haben, dann machen sich Kinder, die dolmetschen mussten, zusätzlich Vorwürfe.

Im medizinischen Setting sind Vertrauen und Ehrlichkeit von großer Bedeutung, weil es sich um die Gesundheit der Menschen geht. Ist es für die Patienten dann nicht erleichternd, wenn ihre Vertrauenspersonen statt unbekannten DolmetscherInnen dolmetschen?

Eine grundsätzliche Frage ist die des Vertrauens in die Expertise. Wenn ich ein medizinisches Problem habe, gehe ich zu einer Ärztin oder zu einem Arzt. Je ernsthafter mein medizinisches Problem ist, desto mehr bin ich auf die richtige Diagnose und Behandlung angewiesen, bzw. suche ich dann eine Fachärztin oder einen Facharzt auf und nicht etwa einen Sanitäter. So ist es auch mit DolmetscherInnen. Allzu leicht sparen wir hier bei der Qualität. Natürlich ist es nicht angenehm, wenn mit dem Profidolmetscher eine weitere Person beim schwierigen Arztgespräch anwesend ist. Aber zum einen sind oft ohnedies mehrere Personen anwesend, die man sich nicht aussuchen kann – Arzthelfer, Praktikanten usw. Zum anderen ist neben dem Vertrauen die Qualität wichtig; auch der Arzt oder die Ärztin soll ja nicht nur empathisch und freundlich, sondern vor allem auch kompetent sein. Dasselbe gilt für den Dolmetscher; der beste Arzt hilft nichts, wenn bei der Dolmetschung Fehler passieren, die zu falscher Diagnose oder Behandlung führen. Ein Angehöriger kann zusätzlich als Stütze anwesend sein (eher der Partner als ein noch nicht erwachsenes Kind); er soll aber keine Aufgabe tragen, die ihn überfordert.

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