Start Aktuelle Ausgabe
REPORTAGE

Vinča-Schrift: Ist die Donauschrift vom Balkan die älteste Schrift der Welt?

(FOTOS: zVg.)

Im heutigen Serbien, Bosnien-Herzegowina und Rumänien sowie im Süden Ungarns bestand 6000 Jahre vor unserer Zeitrechnung entlang der Donau eine Kultur, die viele für die Wiege der Zivilisation in Europa halten.

Unweit unserer Heimat befinden sich seit dem 19. Jahrhundert archäologische Fundstätten, die uns zwingen, die Geschichte der westlichen Zivilisation aus einer anderen Perspektive zu sehen. Waren die Menschen des alten Europa die ersten, die eine Schrift besaßen, lebt ihr Erbe in uns weiter und stammen unsere sozialen Idealvorstellungen und Strukturen aus einer Kultur, von der kaum jemand gehört hat und die heute noch Gegenstand zahlreicher Untersuchungen und Analysen ist? Im Südosten Europas verhinderte oder beschränkte der Eiserne Vorhang jahrzehntelang den Blick auf eines der archäologisch interessantesten Gebiete unseres Kontinents. Mehrere Jahrtausende vor der Einwanderung der Völker aus dem Osten, die das Europa geschaffen haben, das wir heute aus den Geschichtsbüchern kennen, bestanden im alten Europa Kulturen, die bereits in der Steinzeit erstaunliche Entwicklungen vollbrachten.

Vinča, Turdaș und Tărtăria
Im Jahre 1847 entdeckte die Baronin Zsófia Torma unweit von Temeswar, in Turdaș, am Ufer der Donau zahlreiche prähistorische Keramikgegenstände. Sie erkannte sofort Zeichen auf den Relikten und interpretierte sie als Schrift. Auf einigen dieser Tongefäße befindet sich auch ein typisches Zeichen der Vinča-Kultur. Aus der Sammlung der Baronin Zsófia Torma sind mehr als 4.000 Objekte erhalten, von denen 300 mit der sogenannten Donauschrift in Verbindung gebracht werden. Nicht wissend, dass ihre Entdeckung älter war als die Keilschrift, versuchte Torma sie den damals bekannten Zivilisationen zuzuordnen, und sie erfuhr nie, wie verbreitet die Besiedlung, die sie entdeckt hatte, entlang der Donau im heutigen Rumänien tatsächlich war. Mehr als 30 Jahre nach Tormas Entdeckungen, genauer gesagt 1908, begann der erste Diplom-Archäologe Serbiens, Miloje Vasić, in der Belgrader Vorstadt Vinča mit archäologischen Grabungen am Donauufer.

Verbreitungskarte der Vinča-Kultur auf der Balkanhalbinsel. Spuren der Besiedlung finden sich im heutigen Serbien, Westrumänien, Südungarn, im Osten von Bosnien-Herzegowina sowie im Kosovo. (FOTO: Wikimedia Commons)

Vasić stieß auf zahlreiche Gegenstände, die denen ähnelten, die Torma in Rumänien gefunden hatte. Auch auf den Keramikgefäßen aus Vinča bemerkte Vasić eingekerbte Symbole, die er für eine Schrift hielt. Bis heute sind erst zwei bis drei Prozent der gesamten Siedlung in Vinča freigelegt, aber bei den Arbeiten wurden bereits ca. 300 Gegenstände mit denselben Piktogrammen gefunden. Sein ganzes Leben lang versuchte Vasić, seine Funde zu datieren, und kam unmittelbar vor seinem Tode zu dem Schluss, dass sie aus der Zeit um 600 vor unserer Zeitrechnung stammen müssten. Damit beurteilte er ihr Alter ebenso falsch wie seine Vorgängerin Torma. „Vasić wusste eigentlich nicht, worum es sich genau handelte. Er war von der Qualität und Schönheit der gefundenen Gegenstände so begeistert, dass er überzeugt war, dass es sich um eine spätere historische Periode handeln müsse“, erklärt Nenad Tasić, der ehemalige Leiter der Ausgrabungen an der archäologischen Fundstätte Vinča – Belo Brdo.

Egalitäre Gesellschaft: Das soziale System Vinčas kannte keinen König oder andere Herrscher und es wurden auch keine Kriege geführt.

Das Alltagsleben in Vinča
Heute ist bekannt, dass die Menschen in Vinča im großen Stile Handel betrieben. Bei den Grabungen wurden Muscheln aus dem Schwarzen Meer und Mineralien aus Ungarn gefunden. Nach Tasićs Meinung war Vinča in der ganzen Region der größte Umschlagplatz für Waren der Jungsteinzeit, denn dort kreuzten sich zahlreiche Wege, die die Balkanhalbinsel durchschnitten. „Das waren Wasserwege. Und Vinča ist eigentlich der Ort, an dem mehrere Flüsse in die Donau münden: von der Drina über den Temesch, die Theiß und die Sava bis hin zur Morava. All diese Flüsse waren zu jener Zeit die Pulsadern des Balkans“, fügt Tasić hinzu.

Wie die Menschen aus Vinča sich selber nannten, ist heute nicht bekannt. Die archäologischen Forschungen zeigen jedoch, dass sie dort ansässig waren, Landwirtschaft betrieben und Vieh hielten. Gräber wurden in Vinča noch nicht gefunden, weswegen niemand mit Sicherheit sagen kann, wie diese Menschen eigentlich ausgesehen haben. „Unsere Untersuchungen haben gezeigt, dass Vinča eine hoch organisierte Gemeinschaft war. Zwischen den Häusern war selten mehr als zwei Meter Abstand. Deshalb glauben wir, dass viele Menschen auf engem Raum sehr gedrängt gelebt haben“, erklärt Tasić. Heute sind sich die Fachleute einig, dass die Funde aus Turdaș und Vinča aus derselben Kultur stammen. Besondere Aufmerksamkeit erregte unter Archäologen die Tatsache, dass alle Häuser dieselbe Form und Ausstattung besaßen. Man gewinnt den Eindruck, dass alle Einwohner dieselbe Lebensweise pflegten und dass wenige Unterschiede im sozialen Status bestanden. Es wird angenommen, dass es sich um eine relativ egalitäre Gesellschaft handelte. Ihr Sozialsystem kannte keinen König, sie führten keine Kriege, unterhielten jedoch enge Handelsbeziehungen und pflegten die Handwerkskünste. Die Kulturen der Antike wie die ionische, die griechische oder die thrakische lebten ein vollkommen anderes Leben.

Älter als die Keilschrift?
Am Anfang war das Wort – so jedenfalls lehrt es uns die biblische Schöpfungsgeschichte. Und aus dem Wort wurde die Schrift, die in ihren Anfängen immer eng mit dem Glauben und den Ritualen der Völker verbunden war. Die ersten Inschriften berichten nicht von großen Schlachten oder Gesetzen und bilden auch keine literarischen Werke, sondern legen Zeugnis ab von Göttern und Göttinnen. Die Experten sind sich einig, dass keine Hochkultur ohne eine Schrift hätte entstehen können. Aber wer hat eigentlich die Schrift erstmals erfunden? Diese Frage ist noch heute Gegenstand vieler wissenschaftlicher Diskussionen. Die verbreitetste Theorie besagt, dass die Sumerer 3.500 vor unserer Zeit die ersten waren, die Aufzeichnungen über verschiedene Alltagsdinge führten wie etwa die Zahl der Tiere, die für Gottesopfer bestimmt waren. Ihre sogenannte Keilschrift bildet ein System unterschiedlicher Symbole, auch Piktogramme genannt, die mit der Zeit vereinfacht und abstrahiert wurden.

Aber dieser Theorie widersprechen die Funde der Kultur am balkanischen Donauufer ganz eindeutig, denn hier bestand bereits zweitausend Jahre vor den Sumerern eine Schrift. Nur 30 Kilometer vom rumänischen Ort Turdaș entfernt, in Tărtăria, enteckte ein Team um den Archäologen Nicolae Vlassa die Ruinen einer Siedlung. Bald zeigte sich, dass dort Angehörige der Vinča-Kultur gelebt hatten. Die größte Sensation war die Entdeckung von drei Tontafeln mit eingeritzten Symbolen in einem Grab. Auch Vlassa schloss daraus sofort, dass die Vinča-Kultur etwa 2.800 Jahre vor unserer Zeitrechnung bestanden haben müsse, als in Mesopotamien bereits eine Schrift bestand“, sagt Tasić. Unmittelbar neben der Fundstätte der Tontafeln befindet sich eine weitere archäologische Fundstätte aus einer anderen historischen Periode. Daher diskutierten Fachleute lange Zeit über die Glaubwürdigkeit der Datierung der Täfelchen in die Steinzeit.

Transkription der Zeichen von den Tafeln aus Rumänien und ihr Original. (FOTOS: zVg.)

Schrift oder Symbolsystem?
Radiokarbonanalysen bestätigten, dass alle Schätzungen des Alters der Vinča-Kultur falsch gewesen waren. Wenn es sich bei den Symbolen aus Turdaș, Tărtăria und Vinča tatsächlich um eine Schrift handelt, dann würde dies bedeuten, dass diese Schrift die erste der Welt gewesen ist, ganze 2.000 Jahre älter als die Keilschrift. „Mit Sicherheit handelt es sich nicht um irgendein sinnloses Gekritzel, sondern es bestand offensichtlich eine feste Vorstellung davon, wie alles aussehen musste und wie der andere es verstehen sollte“, erklärt Andrej Starović vom Nationalmuseum in Belgrad. Allein in Vinča wurden mehr als 300 verschiedene Zeichen gefunden, von denen sich die größte Zahl auf Gefäßen befand, die vermutlich dazu dienten, Lebensmittel vor dem Verderben oder sogar vor fremden Essern zu schützen. Die Vinča-Zeichen treten meistens alleine auf, selten in Paaren, weswegen einige Forscher sie für eine Ideographie halten. Das bedeutet, dass jedes Zeichen eine Idee oder einen Begriff wiedergibt. Mit einer Schrift dieser Art können nur einfache Sätze gebildet werden. Der deutsche Linguist Harald Haarmann schrieb ein Buch über die Geschichte der Schrift und ist überzeugt, dass nicht die Sumerer die erste Schrift besaßen, sondern die alten Europäer im Südosten des Kontinents.

„In einer entwickelten Zivilisation, wie das bei der Donauzivilisation der Fall war, bestand nicht nur ein System visueller Zeichen, sondern gleich mehrere. Es gibt Zeichen auf Tongefäßen, die sich am Boden des Gefäßes befinden und die vermutlich zur Kennzeichnung dienten. Aber es gibt auch Zeichen, die an der Außenseiten der Gefäße oder Figuren eingeritzt sind, die mit Sicherheit nicht dieselbe Funktion erfüllten wie die am Boden, die man während der Benutzung des Gefäßes nicht einmal sehen konnte“, erklärt Haarmann. Ob man von einer Schrift sprechen könne oder nicht, hängt davon ab, wie man den Begriff Schrift definiert, und darüber streiten die Experten weltweit bis heute. Während die einen der Meinung sind, dass eine Schrift nicht zwingend eine Verbindung zu einer Sprache und ihren Grundbestandteilen haben muss, sehen andere in der Donauschrift vor allem ein System, das dem der Verkehrszeichen ähnelt. Diese können ebenfalls „gelesen“ werden, bilden aber nach heutiger Definition keine Schrift. Dennoch bleibt die Frage unbeantwortet, ob wir ein Zeichensystem, das über 7.000 Jahre alt ist, überhaupt aus heutiger Sicht beurteilen können.

Rückkehr zur Schriftlichkeit
Archäologen können heute nicht mit Gewissheit sagen, wie es zum Untergang der Vinča-Kultur gekommen ist. Einige Ausgrabungen zeigen, dass die Bewohner der frühen Siedlungen in Rumänien und Serbien ihre Häuser überstürzt verlassen haben. In den Erdschichten finden sich auch Spuren großer Feuer, was bedeuten könnte, dass die Vinčaner Opfer eines Eroberers wurden. Diese Theorie bestätigen auch Funde wertvoller Alltagsobjekte wie Werkzeuge zur Kupferbearbeitung, die die Menschen jener Zeit vermutlich mitgenommen hätten, wenn sie Zeit gehabt hätten. Danach verliert sich die Spur der Vinča-Kultur. Ausgrabungen von Siedlungen aus späterer Zeit datieren erst aus der Zeit des römischen Reichs. Mit dem Verschwinden der Donauschrift um 3.500 vor unserer Zeitrechnung kehrt Europa in eine Zeit ohne Schriftlichkeit zurück.

Die Diskussion, ob es sich um eine Schrift oder ein einfaches Zeichensystem handelt, ist noch nicht zu Ende.

Erst zwei Jahrtausende später beherrschten die mykenischen Griechen in Europa wieder die Kunst des Schreibens. Eine Ausnahme bildet die Insel Kreta, wo sich nach Meinung Haarmanns, aber auch anderer Linguisten, eine Erinnerung an die Donauschrift bewahrt hat. Archäologen fanden dort Figuren präindoeuropäischer Göttinnen aus dem zweiten und dritten Millennium vor Christus, die mit abstrakten Zeichen verziert waren. „Als die Indoeuropäer von Norden zuwanderten, kam es zu einem Druck auf die alteuropäische Population. Ein großer Teil wanderte ab, was ich die balkanisch-europäische Kulturdrift nenne. Und die alten Europäer nahmen ihre Kultur mit. Sie nahmen ihre Schriftkenntnis nach Kreta mit. Nachdem sich die Menschen dort wieder organisiert hatten, begannen sie erneut zu schreiben“, behauptet Haarmann. Er ist der Meinung, dass man auffällig große Ähnlichkeiten zwischen der Donauschrift und der Schrift Linear A aus dem alten Kreta findet. „Die Hälfte der Zeichen von Linear A stammt aus dem alteuropäischen Repertoire. Die anderen sind Innovationen, die auf Kreta selbst entstanden sind“, erläutert er.

Eine neue Wendung in der Diskussion um die Vinča- oder Donauschrift brachten Ausgrabungen in Plewen (Bulgarien) im Jahre 2016. Während archäologischer Arbeiten wurde dort eine Tontafel aus dem Jahre 3.000 vor Christus gefunden, die ebenfalls Vinča-Zeichen trägt. Verfechter der Theorie der Donauschrift als ältester Schrift der Welt sehen darin eine weitere Bestätigung für die Wahrheit ihrer Theorie, während Kritiker nicht von dem Standpunkt abrücken, dass die Keilschrift der Sumerer die erste Schrift ihrer Art in der Geschichte der Menschheit gewesen sei.

Ein Vergleich zwischen der Donauschrift und der Linearschrift A. (FOTOS: Screenshots)