Versteckt in einem abgelegenen Gebiet der Türkei lebt eine Familie, deren Mitglieder auf allen Vieren laufen. Die Wissenschaftler rätseln.
Türkische Forscher bezeichneten das Phänomen zuerst als Beweis für eine „Rückwärtsevolution“, da fünf der 19 Kinder von Resit und Hatice Ulas auf allen Vieren ihren Lebensalltag beschreiten. Die anderen Nachkommen gehen aufrecht. Wissenschaftler waren sich sicher, dass die Fortbewegung mit Füßen und Handflächen einen „Rückfall der Evolution vom aufrechten Gang“ darstellt.
Frühe Theorien legten nahe, dass die Geschwister wie unsere frühen Vorfahren auf allen Vieren gehen und so einen Einblick in die ferne Vergangenheit ermöglichten. Aber im Gegensatz zu Primaten verwenden die Geschwister nicht ihre Fäuste zum Laufen, sondern den Handballen.
Von der Gesellschaft verachtet und misshandelt
Safiye, Hacer, Senem und Emine und Hüseyin (zwischen 25 und 41 Jahre alt) werden nunmehr jahrelang von anderen Dorfbewohnern in der südtürkischen Provinz Hatay – nahe der Grenze zu Syrien – verachtet und sogar mit Steinen beworfen. Ein sechstes Kind war ebenfalls auf allen Vieren unterwegs, starb aber im Alter von fünf Jahren.
Die vier Töchter von Resit und Hatice, die auf allen Vieren gehen, bleiben aus diesem Grund zumeist in der Nähe des Hauses, um vor den anderen Mitbürgern sicher zu sein. Wissenschaftler haben jedoch herausgefunden, dass Hüseyin sehr wohl mehrere Kilometer wandert und mit anderen Dorfbewohnern interagiert. Keiner der fünf Betroffenen besucht die Schule.
Existenz geheim gehalten
Mehr als 20 Jahre wusste niemand von der Familie Ulas. Erst 2005 entdeckten zwei britische Wissenschaftler eine unveröffentlichte Arbeit eines türkischen Kollegen. Das Phänomen ging um die Welt, da ein vierbeiniger Gang bei gesunden, erwachsenen Menschen noch nie zuvor wissenschaftlich beschrieben wurde.
Der türkische Forscher Üner Tan bezeichnete den Vierbeinergang der Familie als „Üner Tan Sydrom“ und Form der „umgekehrten Evolution“. Der britische Psychologe Nicholas Humphrey lehnt diese Theorie jedoch ab: „Ich denke, dass Professor Tans Beschreibung dieser Familie als „Devolution“, als evolutionäre Rückentwicklung, nicht nur wissenschaftlich verantwortungslos, sondern auch zutiefst beleidigend für diese Familie ist.“
Der Neurowissenschaftler Roger Keynes und der Mediziner John Skoyles sind vielmehr der Ansicht, dass es sich bei der Familie Ulas um ein Zusammentreffen zweier seltener Phänomene handelt.
Kombination zweier seltener Phänomene?
Die betroffenen Geschwister leiden alle an einer angeborenen Bewegungsstörung, einer Kleinhirn-Ataxie, d.h. das Gleichgewichthalten auf zwei Beinen fällt ihnen schwer.
Die Wissenschaftler glauben jedoch, dass dies keine „ausreichende Erklärung“ für die Vierbeinigkeit ist, und argumentieren, dass ein Hauptfaktor ihres Zustands auf die Umstände und die Umgebung zurückzuführen ist.
Bis zum Alter von neun Monaten krabbelten die Kinder wie gewohnt auf Händen und Knien, entwickelten dann aber ein sogenanntes „Bärenkrabbeln“ – das Fortbewegen auf Händen und Füßen. „Viele Dinge waren seltsam an ihnen. Die Mutter hat uns erzählt, dass sie auf ungewöhnliche Weise krochen „, sagte Prof. Humphreys in einer BBC-Dokumentation.
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„Einige von ihnen hatten dann sicherlich dieses außergewöhnliche Gleichgewichtsproblem. Außerdem wissen wir, dass ihre Skelette stark untypisch sind und die Mutter sehr schnell hintereinander Kinder gebar.“ Innerhalb von nur fünf Jahren brachte Hatice Ulas sieben Kinder zur Welt. Vier davon sind heute auf allen Vieren unterwegs.
„Ich denke, wir sollten überhaupt nicht überrascht sein – auch wenn dies ein Extremfall ist –, dass die Kultur so einflussreich sein kann. Wir werden uns zunehmend, dass wenig von unserem Verhalten als Kind oder als Erwachsene tatsächlich von den Genen programmiert ist.“ Die Wissenschaftler kamen zum Schluss, dass sowohl genetischen, physiologischen als auch sozialen Faktoren hineingespielt haben.
Fotos und Videos von der Familie Ulas findet ihr auf den nächsten Seiten!
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