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Balkan Stories: Seit Oktober: Korruption tötet mindestens 100 Menschen

FOTO: Balkan Stories
FOTO: Balkan Stories

Behördenversagen und Korruption haben in nicht einmal einem halben Jahr mehr als 100 Menschen im ehemaligen Jugoslawien getötet. Eine blutige Spur von Wegschauen und Handaufhalten zieht sich von Donja Jablanica bis Kočani.

4. Oktober 2024. Eine Felslawine aus einem illegal betriebenen Steinbruch erschlägt 19 Menschen in Donja Jablanica in der Hercegovina.

1. November 2024. Das Vordach des frisch renovierten Bahnhofs von Novi Sad stürzt ein. Seine Trümmer erschlagen 15 Menschen.

1. Jänner 2025. In Cetinje in Montenegro läuft ein amtsbekannter Gewalttäter Amok und erschießt 12 Menschen und sich selbst. Die Polizei braucht mehrere Stunden, um ihn zu finden.

16. März 2025. Während eines Konzerts in einem illegal betriebenen Nachtclub in Kočani in (Nord-)Mazedonien bricht Feuer aus. 59 Gäste verbrennen, ersticken oder werden in der Massenpanik zu Tode getrampelt.

105 Tote in weniger als einem halben Jahr.

105 Menschen, die leben könnten, wenn die zuständigen Behörden nicht weggeschaut oder gar die Hand aufgehalten hätten.

Das sind nur die bekanntesten, die großen, Katastrophen.

Ruke su vam krvave!

Von den kleinen red ich gar nicht.

Von den Menschen, die Raser in Sarajevo alle paar Monaten niedermähen, weil die Polizei zu wenig kontrolliert.

Von den Menschen, die an gut behandelbaren chronischen Krankheiten krepieren, weil sie das medizinische Personal im Krankenhaus nicht schmieren können.

Von dem toten Bauarbeiter hier oder da, die vom Gerüst fallen, weil sie nicht ausreichend gesichert sind, weil der Chef Geld sparen will und es der Bauinspektion egal ist.

Von der erschlagenen Ehefrau oder Freundin da und dort, die noch leben könnte, wenn die Polizei ihre Anzeige wegen häuslicher Gewalt ernstgenommen hätte.

Ich rede nur von den großen Fällen.

Von denen, die wir alle kennen.

Von den Fällen, wo man nicht mehr groß erklären muss, dass die Behörden versagt haben – absichtlich oder unabsichtlich.

Von Donja Jablanica bis Kočani reicht diese blutige Spur des Versagens, des Wegschauens und der Korruption.

Ruke su vam krvave! An Euren Händen klebt Blut!

Hier, in und an diesen Fällen sieht es der Dümmste. Wenn er sehen will.

Wenn er nicht bis zum Hals im Allerwertesten der Mächtigen daheim steckt oder gerne stecken würde.

So wie ein Bekannter, der mir letztlich über die Massenproteste in Serbien gesagt hat: „Was wollen die Leute denn? So viel Aufregung wegen 15 Toten? Ich bitte dich!“

Der Bekannte ist serbischer Immigrant der ersten Generation.

Warum, lieber Freund, frage ich dich, lebst du dann nicht unten?

Glücklicherweise sehen das die Menschen in Serbien anders. Die Massen stehen auf der Straße. 300.000 allein am 15. März in Beograd. (Siehe diese Reportage.)

In Bosnien, in Montenegro und seit diesem tragischen Wochenende in Nordmazedonien versuchen Aktivisten ebenfalls, wegen der Katastrophen bei ihnen daheim größere Protestbewegungen ins Leben zu rufen.

Allein, es bleibt bei spontanen Bezeugungen berechtigter Wut. Warum, weiß niemand so recht. Vielleicht sind die Menschen zu abgestumpft nach Jahrzehnten des Angelogenwerdens durch die jeweiligen Machthaber.

Allerdings, das haben wir bis Anfang Dezember über die Menschen in Serbien auch geglaubt. Heute glauben wir das nicht mehr ganz so.

Oft ist es auch Zufall, welche Katastrophe zum Zündfunken einer Protestbewegung werden kann, die zumindest die Aussicht hat, ein System der Korruption hinwegzufegen. In Serbien etwa trafen empörte Studenten auf Aktivisten, die gegen den Abriss der alten Sava-Brücke in Beograd kämpfen, und auf Aktivisten, die in der soeben zerbrochenen Koalition Srbija protiv nasilje Erfahrungen gesammelt hatten.

Was daraus wurde, schrieb Geschichte.

In der Sumpfblüte des Nationalismus gedeiht Korruption besonders gut

Dass Aktivisten in Bosnien, in Kroatien, in Slowenien, in Montenegro, in (Nord-)Mazedonien, ja auch im Kosovo mit Hoffnung nach Serbien blicken, ist kein Zufall.

Sie alle wissen, sie kämpfen gegen das gleiche System der alltäglichen Korruption.

Es ist gewachsen und gedeiht in der Sumpfblüte des Nationalismus, die im blutigen Zerfall Jugoslawiens an die trübe Oberfläche trieb und seitdem sprießt und sprießt – unter oder vielmehr über praktisch jeder Regierung, die es in jedem dieser Staaten seitdem gegeben hat.

Nationalismus und Korruption, das geht immer Hand in Hand. Nationalismus ist an sich Beschiss, so ernst ihn auch manche seiner Proponenten nehmen mögen. Wenn es schon einmal zentraler Bestandteil deines politischen Programms ist, den Leuten Lügenmärchen über ihre reine und unterdrückte Nation zu erzählen, kannst du sie gleich auch in allem anderen übers Ohr hauen. Wenn schon, denn schon.

Es ist beinahe beliebig, ob sich die Machthaber Unabhängige Sozialdemokraten nennen, Sozialdemokraten, Fortschrittliche, Demokraten, Sozialisten. Fast alle größeren Parteien im ehemaligen Jugoslawien sind mehr oder weniger offen nationalistisch. Die einen mehr, die anderen weniger. Mit ein Grund, warum sie so korruptionsanfällig sind.

Für den jeweiligen Behördenapparat gilt das Gleiche.

Das hat auch auf die eine demoralisierende Wirkung, die keine Nationalisten sind. Sie werden selbst korruptionsanfällig. Oder gehen den Kampf gegen die tief verwurzelte Korruption und Behördeninkompetenz nur zögerlich an.

105 Leute haben diese Menschen allein im vergangenen halben Jahr am Gewissen. Die von denen wir wissen.

Kad je dosta? Wann reicht es euch?

Ansatzweise Konsequenzen gibt es nur wegen Drucks von unten

In Serbien reicht es den Menschen. Konsequenzen gibt’s zumindest ansatzweise. Ein Ende des korrupten Systems erscheint möglich.

In Nordmazedonien nehmen sie jetzt kreuz und quer Leute fest und überprüfen hektisch alle Nachtclubs des Landes. Jeder weiß, das ist Aktionismus, um die öffentliche Wut zu beruhigen. Vielleicht auch die Hoffnung, es den Vorgängern in die Schuhe schieben zu können.

Wenn daraus kein ernsthaftes Korruptionsbekämpfungsprogramm wird, wird irgendwann wieder ein Nachtclub brennen.

Sehr wahrscheinlich wird es das nicht, ohne, dass sehr viel Druck von der Straße kommt.

Ditto in Bosnien. Es glaubt doch kein Mensch, dass sich dort auf einmal reiche Firmenbesitzer an Gesetze halten müssen, oder gar alle illegal betriebenen Steinbrüche stillgelegt werden, ohne, dass es einen Aufschrei von unten gibt?

Oder dass Montenegro einfach so ein funktionierendes Polizeisystem bekommt?

Nein, das werden sich die Menschen dort hart erkämpfen müssen.

„Das Recht gibt euch kein höh’res Wesen, kein Gott, kein Kaiser noch Tribun. Euch aus dem Elend zu erlösen, könnt ihr nur selber tun.“

Der Kampf muss der gleiche sein

Der erste Schritt ist, diesen Kampf gegen die alltägliche Korruption als gemeinsamen Kampf zu begreifen. Wie es übrigens die Studenten in Serbien sehr explizit vormachen. Und wie es viele studentische Aktivisten in Bosnien, Kroatien etc. sehr deutlich formulieren.

Und wie es auch viele Bosnier, Montenegriner, Kosovo-Albaner etc. verstehen, die das erste Mal seit 1991 nicht mit Angst oder Hass nach Serbien blicken sondern mit Hoffnung und Stolz.

Wie es mein Freund Midhat Kapetanović aus Sarajevo täglich in seinen Cartoons zeigt, und formuliert: Samo zajedno! Nur gemeinsam geht es.

Der Kampf gegen Korruption in der Region kann nur funktionieren, wenn ihn Protestbewegungen grenzüberschreitend angehen. Und er wird beitragen, das Umfeld zu überwinden, das die Korruption überhaupt erst zur alltäglichen Erscheinung hat werden lassen: Den Nationalismus.

Es gibt erste Ansätze für diesen gemeinsamen Kampf.

Die Studentenproteste in Montenegro etwa lehnen sich sehr bewusst an die serbischen Massenproteste an.

Auch Proteste in Bosnien etwa wegen der Katastrophe von Donja Jablanica streichen die Gemeinsamkeit des Kampfes heraus.

Bei Trauerkundgebungen vor mazedonischen Botschaften im Ausland hielten Mazedonier, oft genug unterstützt von Serben, Bosniern und Montenegrinern, 74 Schweigeminuten für 74 Opfer. 59 für die Opfer von Kočani. 15 für die Opfer von Novi Sad.

Solidaritätsproteste der serbischen Dijaspora für die Massenproteste in Serbien streichen seit Monaten heraus, dass Korruption und Behördenversagen die Menschen in allen Nachfolgestaaten Jugoslawiens betreffen und Teil des gleichen Systems sind.

An der praktischen Umsetzung hapert es noch.

Man wünscht sich nur, dieser Kampf hätte begonnen, bevor diese 105 Menschen gestorben sind.

Balkan Stories, Christoph Baumgarten

Christoph Baumgarten ist Journalist und Balkanreisender aus Leidenschaft. Seit 2015 verbindet er beide Leidenschaften auf seinem Blog Balkan Stories. Dort versucht er, Geschichten zu erzählen, für die es in größeren Medien meist keinen Platz gibt und stellt die Menschen in den Mittelpunkt.

Mehr von Christoph könnt ihr unter balkanstories.net nachlesen.