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WESTBAHNHOF

Der Bahnhof der Verlierer dieser Gesellschaft

ABHÄNGEN AM WESTBAHNHOF. „Hier ist alles bis spät in die Nacht offen, hier treffen wir uns und hängen herum, wenn wir nichts mehr zu tun haben“, verraten uns die Jugendlichen Naser und Muhamed. (FOTO: Diva Shukoor)

„Die Journalisten sind an allem schuld“
Obwohl der Autor dieses Textes kein Freund der allgemeinen, auch in Österreich immer häufigeren Berichte mit dem vereinfachten Tenor ist, dass die Flüchtlinge die Kriminalität an bestimmte Orte der Stadt getragen haben, müssen wir dennoch eines bestätigen: Für die Suche nach jungen Asylanten haben wir am Westbahnhof nicht viel Zeit gebraucht. Für viele von ihnen hat genau hier ihre österreichische Geschichte begonnen. Und wenn wir uns an den Südbahnhof in den späten sechziger und in den siebziger Jahren erinnern, so war der damals der wichtigste Treffpunkt der Ex-Yu-Migranten in Österreich. Am Westbahnhof ist die Anwesenheit syrischer, tschetschenischer und afghanischer Flüchtlinge zweifellos unübersehbar. Aber stellen sie tatsächlich eine Gefahr für die Gesellschaft dar, wie es uns die österreichischen Boulevardmedien einreden wollen?

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Viele junge Flüchtlinge beenden das Gespräch mit uns schnell, nachdem sie hören, dass wir in journalistischer Mission gekommen sind. Im Gespräch mit ihnen spürt man, dass schon viele Reporterteams auf diesem Bahnhof waren, und viele von ihnen haben „Frischfleisch“ gesucht, um eine weitere Geschichte über die Flüchtlingskriminalität schreiben zu können. Wie das in der journalistischen Arbeit so ist, wird man, selbst wenn man nicht der Autor der anderen Geschichten ist und wenn man nicht von einem rechtspopulistischen Medium kommt, automatisch zur Zielscheibe und zum Mitschuldigen für alle Artikel der Kollegen, die zuvor erschienen sind. „Lassen Sie uns endlich in Ruhe. Nur wegen all dieser Artikel wird die Situation immer schlechter, und nur darum benehmen sich alle immer schlimmer und schlimmer“, sagt uns ein junger Afghane, der über unseren Besuch auf dem Wiener Westbahnhof, gelinde gesagt, nicht begeistert ist.

Ohne Perspektive
Dennoch gelingt es uns, einige von ihrer Überzeugung abzubringen, dass wir mit einer „Totengräbermission“ gekommen sind, und der junge Afghane Naser spricht mit uns anonym darüber, was am Westbahnhof passiert. Er stimmt zu, dass wir ihn gemeinsam mit seinem Freund Muhamed von hinten fotografieren. Naser ist seit zwei Jahren in Österreich, und einen guten Teil dieser Zeit hat er am Westbahnhof verbracht. „Wir hängen hier herum, wir wüssten nicht, wohin wir sonst gehen sollten. Arbeit gibt es nicht, eine Perspektive gibt es nicht, aber hier ist immer etwas los. Hier ist alles bis spät in die Nacht offen“, sagt der 19-jährige Naser. Wenn er nicht in seinem Deutschkurs ist – und in Anbetracht der Tatsache, dass er erst zwei Jahre hier ist, spricht er ausgezeichnet Deutsch -, dann geht er gerne mit seinen Freunden zum Westbahnhof. „Alles Mögliche habe ich hier schon erlebt, gute und schlechte Tage. Es stimmt, es gab schlechte Situationen, manchmal wegen Drogen, manchmal wegen Konflikten. Aber ich komme nicht hierher, um Ärger zu machen, ich will keine Probleme. Wir treffen uns, hängen ab, essen etwas und so“, sagt Naser. Obwohl er zugibt, dass es zu Zwischenfällen gekommen ist, sagt er, dass in der letzten Zeit alles ruhiger geworden ist und dass es mehr um Unterhaltung und Gesellschaft geht als darum, Probleme zu machen.

„Probleme haben wir alle genug. Ich habe meine Familie seit zwei Jahren, seitdem ich Syrien verlassen habe, nicht gesehen. Das ist ein echtes Problem“, fügt sein Freund Muhamed hinzu, der es im Gegensatz zu Naser geschafft hat, einen Ausbildungsplatz zu finden, und der gerade eine Lehre zum Automechaniker macht. Und während Muhamed bereits ein Ziel vor Augen hat bzw. den Wunsch, später als Automechaniker zu arbeiten, haben viele der „Abhänger“ vom Westbahnhof nicht annähernd dieselbe Perspektive. Wenn Sie zu der großen Zahl der arbeitslosen Flüchtlinge noch die einheimischen Alkoholiker und Drogensüchtigen hinzurechnen, verstehen Sie schnell, dass der Westbahnhof tatsächlich zu einer Art Treffpunkt der Verlierer dieser Gesellschaft geworden ist.

„Der schlimmste Platz in Wien“
Der Somalier Abdi (24), der etwas älter ist als Muhamed und Naser, sagt, dass die Geschichten über die gewalttätigen Flüchtlinge „aufgeblasen“ sind. „Sehen Sie, wir treffen uns hier, um etwas zu essen, zu reden… Die, die Probleme und Gewalt wollen, die sind doch in der Minderheit. Es gibt nicht viele Orte in Wien, wo wir wirklich willkommen sind, und vielleicht sind wir gerade deswegen am Westbahnhof“, sagt Abdi.

„Jeden Tag Diebstähle, Schlägereien… Dies ist der schlimmste Ort der Stadt“, sagt der Wachmann im Merkur. (FOTO: Diva Shukoor)

Er erzählt uns, dass er wegen seiner dunklen Hautfarbe in Österreich mit Rassismus konfrontiert war, unter anderem auch, als er eine Ausbildung bei Jugend am Werk gemacht hat. „Ich habe diese Ausbildung abgebrochen. Ich will nicht der Boxsack für andere sein, an dem sie ihren Frust ablassen können“, fügt Abdi hinzu und schließt, dass die Situation am Westbahnhof „nicht so schlimm ist, wie sie dargestellt wird.“ Ganz anders klingt die Darstellung von Joma Eshtewi, einem Wachmann beim Merkur. „Jeden Tag Diebstähle, Schlägereien, alles Mögliche…

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Aber die Situation hat sich mit der Zeit und mit der Verstärkung des Sicherheitspersonals schon gebessert,“ sagt der iranische Bodybuilder Joma. Doch über den Westbahnhof lautet sein Fazit, dass der dennoch „der schlimmste Ort der Stadt“ ist. Wahrscheinlich liegt die Wahrheit, wie das oft so ist, irgendwo in der Mitte: Der Westbahnhof ist mit Sicherheit kein Ort der reinen Unschuld, im Gegenteil. Aber er ist auch nicht das Wiener Chicago, als das ihn manche gerne darstellen. „Ich habe keine Angst. Es gab alle möglichen Situationen, aber man muss sagen, dass alles in gewisser Weise unter Kontrolle ist. Eine Minderheit macht Probleme, keinesfalls die Mehrheit“, schließt H. Pepp, der in der Trafik beschäftigt ist und schon seit Jahren am Westbahnhof arbeitet.