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REPORTAGE

Die Gräuel des Balkankriegs als Touristenattraktion

Die Belagerung von Vukovar
Vukovar, eine kroatische Stadt an der Grenze zu Serbien, bietet eine weitere Geschichte von Kriegsgräueln und einer Belagerung aus der Zeit des Zerfalls von Jugoslawien. Die Spuren der dreimonatigen Belagerung der Stadt kann man noch heute sehen und besuchen. Neben den Löchern von den Bomben, die auf Vukovar gefallen sind, besteht auch in dieser Stadt ein Gedenkzentrum an den Heimatkrieg in Vukovar. Auf der offiziellen Website wird dieses Museum mit folgenden Worten beschrieben:„Die öffentliche Einrichtung ‚Gedenkzentrum an den Heimatlandkrieg Vukovar‘ hilft bei der Bewahrung der Erinnerungen an den Heimatkrieg, der Bewahrung der Gedenkstätten und der Aufklärung der Schüler über die historische Bedeutung der Kriegsgeschehnisse.“

Ein Besuch dieses Zentrums ist nicht nur ein wichtiger Punkt auf der touristischen Reiseroute, sondern auch ein Pflichtausflug für Schüler der achten Grundschulklasse aus er ganzen Republik Kroatien. Der Ort der größten Exekutionen und ein Massengrab in der Umgebung Vukovars wurden mit Gedenkstätten markiert. Gegen einen Eintritt von 5 Kuna pro Person können Interessenten nur 10 km südlich der Stadt das Massengrab Ovčara besuchen, „einen heiligen Ort, der in ganz Kroatien und darüber hinaus bekannt ist. Den Ort, an dem die Verwundeten und das medizinische Personal des Vukovarer Krankenhauses ermordet wurden. 263 Personen. Von hier aus sind sie zu den Sternen aufgestiegen. Wem galt ihr letzter Gedanke, wessen Namen trugen sie auf den Lippen? Das wird für immer unbekannt und Gegenstand von Rätseln bleiben. Wir danken ihnen für ihren Mut und ihre Leben, wir danken ihnen für Vukovar und Kroatien.“ Diese Sätze mögen unkommentiert bleiben.

HEIKEL. Die ethische Korrektheit des Dark Tourism ist Gegenstand von wissenschaftlichen Diskussionen.

Vor dem Krieg im ehemaligen Staat
Obgleich die bisher vorgestellten Beispiele von Attraktionen des Dark Tourism auf dem Balkan aus der Zeit der letzten Balkankriege datieren, gibt es auch eine Reihe solcher Stätten aus anderen historischen Perioden. Viele Touristen reisen jedes Jahr nach Kroatien, um die Strände zu besuchen und das wunderbare Meer zu genießen, aber jeder Tourist ist in Kroatien sicher schon auf Reklamen für einen organisierten Besuch von Goli Otok gestoßen, dem balkanischen Alkatraz inmitten der schönen Adria.

Das berüchtigte Gefängnis gilt als eines der schrecklichsten nach dem Zweiten Weltkrieg und in der Zeit der Tito-Regierung. Die Häftlinge waren überwiegend politisch Andersdenkende des damaligen kommunistischen Regimes, und nicht selten nannte man Goli Otok auch „privates Konzentrationslager der KPJ“. Hier wurden die schrecklichsten Strafen vollzogen und Zwangsarbeit geleistet. Heute, 30 Jahre nach der Schließung von Goli Otok, sind die Gebäude des ehemaligen Zuchthauses dem Verfall anheimgegeben. Das hindert die Reisebüros jedoch nicht, Ausflüge an diesen Ort zu veranstalten, auf denen die Besucher einen Teil des Schreckens am eigenen Leibe spüren können. Daneben werden auf verschiedenen Internetsites, die den Dark Tourism bewerben, auch andere Attraktionen vorgestellt wie das Konzentrationslager Jasenovac, die Zagreber Villa Rebar, die Ante Pavelić gehörte, dem Führer des Unabhängigen Staates Kroatien, und vieles andere.

Der dritte und letzte Staat des ehemaligen Jugoslawien, auf den ich in diesem Bericht eingehen möchte, ist Serbien, der Nachfolgestaat, der von den Kriegsfolgen am wenigsten betroffen ist. Diversen Blogs und Dark Tourism- Führern nach zu urteilen sind die beliebtesten Ziele das Judenlager Zemun, bekannter unter dem Namen Lager Sajmište, dessen Gebäude durch das NATO-Bombardement 1999 zerstört wurden, sowie das Haus der Blumen, das Museum Jugoslawiens, das nicht selten als „Grab der ganzen SFRJ“ beschrieben wird. „Die einzige spezifische Attraktion außerhalb Belgrads, die ich kenne, liegt bei Niš. Der Schädelturm Ćele Kula kann vielleicht dank der in die Wände eingelassenen Schädel serbischer Aufständischer, die im 19. Jahrhundert von den Osmanen getötet wurden, als eine solche Stätte gelten. Allerdings fällt dieses Bauwerk streng genommen nicht in den Zeitraum, mit dem sich der Dark Tourism beschäftigt“, heißt es auf Darktourism.com, einer Website, die von sich behauptet, der ultimative Führer für diese Art des Tourismus zu sein.

Vorsicht! Tatort!
Die Geschichte dieser und ähnlicher Sehenswürdigkeiten des Dark Tourism ist heute noch zum größten Teil unerforscht oder Gegenstand hitziger Debatten innerhalb politischer und gesellschaftlicher Kreise. Die Schlachten um den Glauben und ethnische, religiöse und territoriale Zugehörigkeiten, die über mehrere Jahrhunderte geführt wurden, haben jedoch in vielen Fällen tiefe Wunden hinterlassen.

Im Internet gibt es eine Reihe von Websites, die sich auf den Dark Tourism spezialisiert haben und Listen der „besten“ Sehenswürdigkeiten anbieten, darunter auch einige auf dem Balkan.

Diese sind noch immer offen und schmerzhaft, nicht nur jene aus dem Krieg in Jugoslawien, sondern auch die von vor einhundert Jahren. Und sie werden kaum schnell verheilen. „Vorsicht“ Tatort!“ – wie es auf den Absperrbändern der Polizei oft heißt, sollte auch die Richtlinie für unser Verhalten gegenüber all diesen Stätten mit so traumatischer Geschichte sein. Vorsicht ist das richtige Wort, vor allem wenn die Tragödien in größerem oder kleinerem Ausmaß ausgeschlachtet werden, um aus dem Dark Tourism Profit zu ziehen. Dennoch ist die Grenze zwischen der wichtigen Erinnerung an eine historische Periode und die Ausbeutung der Kriegsschauplätze als Touristenattraktionen schmal.

Die größte Rolle spielt hier ohne Zweifel die Motivation der Veranstalter, der Reiseagenturen und auch der Besucher, d.h. der Touristen selber. Diese Motivation bewahrt einen Ort vor dem ethisch zweifelhaften Dark Tourism oder macht ihn gerade erst dazu. Eines ist jedenfalls sicher: Bis gestern kaum besuchte Orte sind „dank“ der Kriegsgräuel und ihrer menschlichen Tragödien zu Magneten für Touristen aus der ganzen Welt geworden…