Die tragische Geschichte der Balkanländer und die Narben ihrer kriegerischen Vergangenheit werden zum Magnet für Touristen aus aller Welt, die in immer größerer Zahl in die Nachfolgestaaten der SFRJ kommen, um die Tragödien der anderen zu konsumieren und das Gruseln zu lernen.
Sonnenbaden am Strand und Besichtigungen alter Städte gehören der Vergangenheit an, zumindest für einige Touristen, die in ihrem Urlaub Gefallen daran finden, Massengräber, zerbombte Gebäude, Konzentrationslager, Schlachtfelder usw. zu besuchen – mit einem Wort: alles was mit Elend, Not, Leiden und Tod verbunden ist. Was ist es, das da auf so merkwürdige und in gewisser Weise perverse Art fasziniert?
Der Tod ist wahrscheinlich neben der Geburt die einzige Konstante jedes Lebens, und der Mensch als soziales Wesen beschäftigt sich mit ihm auf verschiedene Weise in Architektur, Literatur, Institutionen, Sitten und Tausenden anderer Aktivitäten auf verschiedenen Gebieten. Wie sehr wir uns alle vor dem Ende des Lebens fürchten, so sehr sind wir davon doch fasziniert und teilweise besessen, und diese Faszination oder Besessenheit hat eine ganze Tourismussparte hervorgebracht. Der sogenannte Dark Tourism oder Thanatourism entwickelt sich als Gegenbewegung zum Massentourismus und erfüllt den Wunsch vieler, auf ihren Reisen größere Authentizität zu spüren. Darum setzt er sich zum Ziel, Stätten zu besuchen, an denen wir auf Tod oder Unglück stoßen. Dieses Phänomen ist nicht neu und besteht überall auf der Welt schon seit Ewigkeiten, aber seinen Weg auf den Balkan hat es erst nach den Kriegsgräueln der 1990-er Jahre gefunden. Das Vorkriegsjugoslawien hatte eine verhältnismäßig große Tourismusindustrie und schon im 18. Jahrhundert war die Balkan-Region weithin bekannt für ihre hervorragenden Bäder. Obwohl 1984 die Olympischen Spiele in Sarajevo stattfanden, wurden über 90 Prozent der Übernachtungen an der Adriaküste gebucht. Alle übrigen Gebiete blieben hinter dem Meerestourismus weit zurück.
Der unglückliche Krieg vor über 25 Jahren hat einigen Regionen des ehemaligen Staates die Möglichkeit gegeben, ihren Besuchern etwas anderes zu bieten als Sonnenbäder am Strand, leckere Meeresfrüchte und Ähnliches, nämlich die Begegnung mit den finstersten Seiten des menschlichen Wesens. Bei meinen Recherchen bin ich auf die Tatsache gestoßen, dass der erste Kriegstourismus der 90-er Jahre nur zehn Tage nach dem Ausbruch des Krieges organisiert wurde. Massimo Beyerle, Tourismusagent aus Italien, bot für unwahrscheinliche 25.000 Dollar pro Person „Führungen am Rande der Schlachtfelder“ an. Und ich muss nicht betonen, dass es mehr als genug Interessenten gab, die bereit waren, diese Summe zu zahlen. Daher wundert es auch nicht, dass noch heute der Dark Tourism in Ex-Jugoslawien eine Einnahmequelle ist. Es ist offensichtlich, dass es Menschen gibt, die bereit sind, Geld zu zahlen, um die Narben des Krieges zu sehen und die Tragödien anderer Leute zu konsumieren. Dieses Phänomen hat auch die Wissenschaft bereits erkannt, und Ende der 90-er Jahre erschien eine große Zahl wissenschaftlicher Veröffentlichungen. Wo es darin um den Balkan ging, fokussierten sich die meisten Arbeiten auf die Entwicklung des Dark Tourism in Bosnien-Herzegowina, genauer gesagt in Sarajevo und Srebrenica.
Ein „Erlebnis wie im Krieg“ für nicht einmal 5 Euro
Die Belagerung der Hauptstadt von B-H hat mit ihrer Dauer von 1425 Tagen große Spuren und Wunden hinterlassen, die heute im besten Falle zu Narben verheilt sind. Sarajevo ist als die Stadt mit der längsten Belagerung des 20. Jahrhunderts in die Geschichtsbücher eingegangen, und das wollen all die Touristen aus der ganzen Welt sehen, die die bosnische Hauptstadt als solche aus den Medien und dem Internet kennen. Früher kamen nach Sarajevo Gäste, um den Ort zu sehen, an dem der Thronfolger der Österreichisch-Ungarischen Monarchie ermordet wurde, die berühmte Lateinerbrücke. Heute, über 100 Jahre später, kommen sie mit dem Wunsch zu sehen, wie es im Jugoslawienkrieg war, als Tausende Granaten fielen, als Scharfschützen von den umliegenden Bergen auf unschuldige Menschen schossen und als der einzige Ausweg aus der belagerten Stadt durch einen Rettungstunnel verlief.
Heute ist dieser Tunnel im Privathaus der Familie Kolar am Stadtrand Sarajevos zu einem Museum umgestaltet und drängt sich jedem Touristenführer als eine der wichtigsten Sehenswürdigkeiten der Stadt auf. Der Tunnel war 800 Meter lang und verband das belagerte Sarajevo unterirdisch mit freiem Territorium. Durch ihn wurden neben Lebensmitteln, Waffen und Medikamenten auch Verwundete transportiert, und täglich durchquerten ihn ca. 4.000 Menschen. Für nur 10 Konvertible Mark kann man heute einen Teil des Tunnels betreten.
Daneben besteht eine ständige Ausstellung mit zahllosen Exponaten und Videoaufzeichnungen aus jener Zeit. Auch ich habe den Tunnel der Rettung unlängst besucht und war verwundert, wie viele Touristen aus aller Welt vor der Kasse auf einen Führer warteten, der diese finsterste Zeit der Hauptstadt in gutem Englisch zum Leben erwecken und ihnen die schrecklichsten menschlichen Schicksale vorstellen sollte. An den Reaktionen der Touristen war erkennbar, dass in ihnen ein Konflikt zwischen großer Neugier und Erschütterung tobte.
Kriegsherberge in Sarajevo
Für alle Besucher der Hauptstadt von B-H mit dem Wunsch, „den Krieg am eigenen Leib zu spüren“, hat der junge Arijan Kurbašić eine Kriegsherberge genau in jenem Haus eröffnet, in dem er den Krieg verbrachte. Seinen Gästen präsentiert sich der Hausherr in einer authentischen Uniform des Bosnien-Krieges unter dem Namen „Zero-One“, dem Kriegsnamen seines Vaters. In der Herberge gibt es keinen Strom, an den Wänden hängen originale Waffen und man schläft auf improvisierten Betten auf dem Boden. In der Nacht wird im Licht von Öllampen und Kerzen geredet, während man im Hintergrund aus Lautsprechern Schüsse und Explosionen hört.
Obwohl er beteuert, dass seine Herberge keine Unterkunft für klassische Touristen ist, kann er sich einer großen Zahl von Übernachtungen rühmen. „Meine Familie und ich waren mit einem Krieg konfrontiert, den wir nicht wollten. Wir haben nur überlebt, weil wir Glück hatten. Heute zeige ich den Touristen die Kriegsschauplätze und was passiert, wenn sich das Volk in ‚die‘ und ‚wir‘ teilt“, sagte Kurbašić in einem Interview mit dem ZDF. Auf die Frage, warum er sein Familienhaus in eine Kriegsunterkunft verwandelt hat, sagte er, er wollte es zu einer „Erinnerungszone“ an den schlimmsten Krieg in Europa seit dem Zweiten Weltkrieg machen. Seine persönlichen Erfahrungen sind, so Kurbašić, die beste Art zu lernen, was Leben im Krieg bedeutet.
TOD: Die Faszination des Lebensendes motiviert Touristen zu Besuchen verschiedener Stätten mit trauriger Geschichte.
„Ein berührendes Gefühl, das man erlebt haben muss“
Das sind nur zwei Beispiele aus der Hauptstadt von B-H, aber es gibt noch eine ganze Reihe ähnlicher Stätten wie das Museum der Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Genozide oder die besonderen Räume im Rathaus, die dem Haager Tribunal gewidmet sind, mit einer Liste der Verurteilten sowie einem Gerichtssaal, der dem in Den Haag nachgebaut ist, mit Originalgegenständen aus den Prozessen. Besonderes Interesse genießt bei den Touristen auch die alte Bobbahn der Olympischen Spiele, die später zum Schlachtfeld wurde.
Der Ort des wahrscheinlich schlimmsten Kriegsverbrechens im Bürgerkrieg in B-H ist Srebrenica. Tausende Männer und Buben fanden hier an dem verheerenden 11. Juni 1995 den Tod. Heute befindet sich in Potočari die Gedenkstätte Srebrenica-Potočari, die am 20. September 2003 eröffnet wurde. Ein Erinnerungsraum, ein Friedhof, eine Tafel mit den Namen der Opfer und die Stadt Srebrenica selbst sind die Orte, an denen Besucher die Folgen eines Massakers vom Ausmaß eines Völkermords sehen und spüren können, und die Touristen selbst spielen eine große Rolle bei der Bewahrung der Erinnerung, da sie später Hunderte gesetzlicher und gesellschaftlicher Diskussionen darüber auslösten, wie der Staat das Verbrechen von Srebrenica nicht nur in Bosnien-Herzegowina, sondern weltweit präsentieren sollte.
„Das muss man sehen. Man kann nicht nach Bosnien-Herzegowina reisen, ohne seine schreckliche Vergangenheit zu bedenken […] Die Wichtigkeit der Gedenkstätte ist unzweifelhaft und niemand sollte sie nicht besucht haben. Die Ausstellung ist informativ und der Friedhof sehr berührend. In dem kleinen Laden arbeiten die Mütter von Srebrenica […] Hasan Hasanović, der den Krieg überlebt hat, führt oft Touristen durch die kleine Gedenkstätte und erzählt seine Geschichte. Eine besonders berührende Erfahrung…“, kommentierte die britische Userin Bigtangle auf „Tripadvisor.co.uk“.
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