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INTERVIEW

„Handke den Nobelpreis abzuerkennen, wäre ein Eigentor“

(FOTO: Wikimedia Commons, zVg.)

Ist Handke ein Freund nationalistischer Serben und Unterstützer eines völkermörderischen Regimes? Ist die Entscheidung der schwedischen Akademie bzw. der Nobelpreis gerechtfertigt? – dies sind nur zwei von hunderten von Fragen und Diskussionen, die seit Wochen die Öffentlichkeit in Österreich und im Ausland beschäftigen.

Wenn man „Peter Handke“ in Google eingibt, findet man Zeitungsartikel, Interviews und Kommentare im Überfluss. Immer wieder wird seine „Freundschaft“ und das „Beschützen“ der Serben während des Jugoslawien-Krieges hervorgehoben und diese Tatsache sei, vieler Stimmen zufolge, Grund genug, ihm keinen Nobelpreis zu verleihen bzw. diesen nachträglich zu entziehen.

Nicht wenige namhafte Schriftsteller und Experten auf dem Gebiet der Kultur- und Literaturwissenschaft sprechen von einer „Schande für die Literatur“ und von einer „Verfehlung durch das Nobelpreiskomitee“. Eines hat man jedoch in keiner der Berichterstattungen lesen können – niemand „traute“ sich, Handkes künstlerisches Handwerk zu diskreditieren.

Diese Tatsache warf jedoch weitere Fragen auf, jedoch weniger Handke-spezifische, sondern über das Verhältnis von Politik und Kunst, die Verantwortung von Schriftstellern gegenüber der Wahrheit und Leserschaft, sowie über Literaturpreise. Auf genau jene Fragen antwortete der international anerkannte Universitätsprofessor Vladimir Biti, der unter anderem am Institut für Slawistik in Wien tätig war.

KOSMO: Trotz heftiger Kritik an Handkes politischer Einstellung bzw. an seinem politischen Engagement, kann man an der Qualität seines literarischen Schaffens nicht rütteln. Was macht ihn zu einem außergewöhnlichen Schriftsteller und wie hat er, aus literaturtheoretischer Sicht, der Entwicklung der Literatur beigetragen?
Dr. Vladimir Biti: Alle Preisverleihungen, Nobelpreis selbstverständlich miteinbezogen, sind politische Akte. Sie können als Instrumente betrachtet werden, deren sich betreffende Institutionen bemächtigen, um die Normen, Werte und Orientiere für einen gewissen Kulturraum zu setzen. Da es keinen Kulturraum ohne Spaltungen und Kontroversen gibt, unterliegen solche Wertesetzungen, zumindest in demokratischen Milieus, freilich Kritik und Bestreitung, wie wir uns insbesondere am Beispiel des Nobelpreises für Literatur schon mehrere Male vergewissert haben. Es ist übrigens allgemein bekannt, dass dessen Jury in seinen Entscheidungen unterschiedliche – geographische, politische, sprachliche, ideologische, kulturelle usw. – Aspekte der Nominierten berücksichtigt, die den „rein“ literarischen Wert deren Werke gelegentlich überschatten können. Den letzteren ist es ja ohnehin schwierig von anderen Werten klar abzusondern, weil er sich gerade durch die Abhebung von diesen profiliert. Das kann auch als eine Politik betrachtet werden, die aber dem Prinzip der Herausnahme statt Stellungnahme (wie die Preisverleihungen) folgt.

Man lernt über die Kriege nicht unbedingt durch literarische Werke und wenn schon, dann nicht durch jene eines einzigen Schriftstellers oder einer einzigen Schriftstellerin.

Mit Kant gesprochen, während die Preisverleihungen bestimmende Urteile einsetzen (Entweder-oder), hält die (moderne) Literatur dem reflektierenden Urteil Treue (Weder-noch). Dasselbe kann von der modernen Literaturtheorie behauptet werden. Sie ist in der Regel darum bemüht, der subtilen Differenzierungsarbeit der literarischen Texte auf die Spur zu kommen, weswegen sie bestimmende Urteile den preisverleihenden Jurys (oder der Literaturkritik) überlässt. Aus der Perspektive der Literaturtheorie laufen alle solche Wertesetzungen (wie auch immer sie notwendig sind) auf einen Gewaltakt gegen die Logik der modernen Literatur hinaus, die bemüht ist alle Werte zu hinterfragen statt diese oder jene zu befürworten. Karl Kraus würde sagen: Literatur denkt statt wie der Journalismus zu meinen.

Ist die politische Einstellung, bzw. der Inhalt eines literarischen Werkes überhaupt von Wichtigkeit, um dieses für einen Preis zu nominieren, oder wird damit Kunst politisiert und die politische Message über die Kunst selbst gestellt?
Ob die politische Ausrichtung eines Schriftstellers oder einer Schriftstellerin maßgeblich für deren literarisches Werk sei, hängt mit der Frage zusammen, wie konsequent dieses Werk der modernen literarischen Logik folgt bzw. sich aus bestimmenden Urteilen herausnimmt. Es gibt freilich SchriftstellerInnen, deren literarische Logik (der Herausnahme aus allen einseitigen Meinungen) ihre tagespolitische Ausrichtung überbietet, aber auch solche, deren tagespolitische Ausrichtung die literarische Logik ihrer Werke reduziert oder gar verdrängt. Die Frage ist natürlich, wo gilt es Handke einzuordnen? Er ist schon lange auf der literarischen Szene tätig, vielleicht hat sich bei ihm das Verhältnis zwischen diesen zwei Prinzipien im Verlauf der Zeit geändert? Um diese Frage anzuschneiden, bräuchten wir erst einmal aufmerksamere Lektüren seiner neueren Werke in diesem Kontext.

In Bezug auf seine politische Ausrichtung, scheint es mir, dass sich Handke, durch seine „einfühlende Beschützung“ der Serben, sozusagen spontan in die Tradition des „entgegenkommenden Paternalismus“ einordnet, welcher in den letzten Jahrzehnten Österreich-Ungarns den langandauernden „assimilierenden Despotismus“ des Imperiums ersetzt hat. Wie Ernst Gellner einmal treffend bemerkte, “an old and rigid dynasty, long linked with hierarchy, authoritarianism, and obscurantist dogmatism” verwandelte sich gegen Ende deren Herrschaft plötzlich in einen “symbol of the Open Society”, die selbst ihre jämmerlichsten östlichen Bestandteile plötzlich in Schutz nahm. Dieses kompensatorische Manöver, das die bitteren territorialen und politischen Verluste gegenüber den mächtigen Deutschen durch die Betreuung der ohnmächtigen Slawen auszugleichen bemüht war, wurde von einigen prominenten österreichischen Intellektuellen, z.B. Hugo von Hofmannsthal, in der Atmosphäre des bittereren Verlustes des Imperiums (und der feindlichen Haltung der damaligen Wiener Gesellschaft gegenüber Intellektuellen jüdischer Herkunft) wiederaufgenommen.

Die Slawen haben die Beschützung vor der Diskriminierung vonseiten der Österreicher genauso wie die Juden verdient, oder die Österreicher selbst vor der Diskriminierung vonseiten der Deutschen. Was er unter solch einer Beschützung verstand, hat Hofmannsthal im Essay Prinz Eugen der edle Ritter erläutert, der im Jahre 1915, nach den bitteren Niederlagen des österreichischen Heeres in Serbien und Galizien entstand und in dem er den Prinzen als einen gnädigen Herrn darstellt, der die eroberten Völker zu wirtschaftlicher Blüte und dadurch in eine homogene Völkergemeinschaft überführt hat. Das Essay kann als Hofmannsthals Kehre von der Verbundenheit den liberalen Erziehungsidealen der deutschen Aufklärung zur Aneignung der mythischen slawischen Gemeinschaftlichkeit bzw. Bildung einer Völkergemeinschaft der Diskriminierten unter der österreichischen Vorherrschaft bezeichnet werden. Es wäre interessant, aus dieser Perspektive, seine Komödie Arabella, in der er die mythische Gemeinschaft der Kroaten als Heilmittel gegen die verheerenden Ergebnisse der westlichen technischen Eroberung der Natur hervorhebt mit Handkes Reise im Einbaum, wo er dasselbe mit der mythischen Gemeinschaft der Serben tut. In beiden wird das Volk mit seinen „heiligen gehaltreichen Tiefen“ als etwas herbeigerufen, das „wirklicher ist als die Individuen“ (Hofmannsthal, Die Idee Europa).

Es gibt zahlreiche Stimmen, die fordern, dass Handke der Nobelpreis nachträglich aberkannt wird. Wäre so ein Vorhaben, Ihrer Meinung nach, ein Eingriff in die Meinungs- und Kunstfreiheit, für welche sich unsere Gesellschaft stark einsetzt?
Die Befürwortung des Wegnehmens des einmal verliehenen Nobelpreises läuft auf ein Eigentor hinaus. Viele Nobelpreisträger sind bereits (berechtigt) vergessen worden, aber derjenige, dem dieser Preis weggenommen worden wäre, würde (unberechtigt) nie ins Vergessen geraten.

Nicht selten wird kritisiert, dass Leser, die nicht genügend mit den Geschehnissen im Jugoslawien-Krieg vertraut sind, Handkes Werke als absolute Wahrheit verstehen könnten. Haben Schriftsteller eine Verantwortung gegenüber ihrer Leserschaft und deren Interpretationen der Werke?
Man lernt über die Kriege nicht unbedingt durch literarische Werke und wenn schon, dann nicht durch jene eines einzigen Schriftstellers oder einer einzigen Schriftstellerin. Darüber hinaus, auch jene, die lediglich historische Quellen verständigen, können verleitet werden. Von der derartigen Verleitung kann kein/e Leser/in beschützt werden. Das mindert aber die Verantwortung der SchriftstellerInnen der Komplexität der Wahrheit gegenüber nicht im Geringsten. Es ist erst durch diese Verantwortung der Wahrheit gegenüber, dass sie sich einer Leserschaft verpflichten, nicht umgekehrt. Sobald ein/e Schriftsteller/in sich auf die Suche nach der Bewilligung eines bestimmten Publikums begeht, verabschiedet sein/ihr Werk die literarische zugunsten der tagespolitischen Logik. Es bleibt uns, wie gesagt, genauer zu erforschen, inwiefern dies bei Handke der Fall war oder ist.

In Bezug auf Handkes politische Ausrichtung, scheint es mir, dass sich Handke, durch seine „einfühlende Beschützung“ der Serben, sozusagen spontan in die Tradition des „entgegenkommenden Paternalismus“ einordnet.

(FOTO: zVg.)

Univ.-Prof. Dr. Vladimir Biti

(geb. 9. März 1952 in Novi Sad) gehört zu den angesehensten Komparatisten, Slawisten und Kulturwissenschaftlern der Gegenwart. Er hatte unter anderem einen Lehrstuhl in Zagreb und Wien inne, ist derzeitig als Gastprofessor in Shanghai und Hangzhou tätig undveröffentlichte zudem zahlreiche Monographien und wissenschaftliche Artikel. Zu seinen Forschungsschwerpunkten zählen Literatur- und Kulturtheorie, die Ästhetik und Philosophie der Geschichte, Traumatheorie, Literatur zwischen Cosmopolitanismus und Nationalismus, Europa und seine Anderen, sowie südslawischen Literaturen und Kulturen der Moderne.