Ein eingestürztes Bahnhofsdach wird zum Funken einer Protestwelle: Nach 16 Todesopfern fordern Serbiens Studenten nun vorgezogene Parlamentswahlen und erhöhen den Druck auf Präsident Vucic.
Sechs Monate nach dem verheerenden Einsturz eines Bahnhofsvordachs in Serbien, der 16 Menschen das Leben kostete, verstärkt sich der politische Druck auf die Regierung in Belgrad erheblich. Die studentischen Organisatoren der landesweiten Protestbewegung haben ihre Forderungen am Montag deutlich verschärft. „Wir fordern die sofortige Auflösung der Nationalversammlung und die Ausrufung vorgezogener Parlamentswahlen“, erklärten sie in einer über Instagram verbreiteten Stellungnahme.
Die Tragödie vom 1. November 2024 hat sich mittlerweile zu einem Katalysator für eine breite gesellschaftliche Oppositionsbewegung entwickelt. Was zunächst als Forderung nach lückenloser Aufklärung der Unglücksursache begann, hat sich zu einer fundamentalen Kritik an Präsident Aleksandar Vucic und seinem Regierungssystem ausgeweitet. Die nahezu täglich stattfindenden Massenkundgebungen prangern insbesondere die weit verbreitete Korruption und die zunehmend autokratischen Tendenzen der Staatsführung an.
Wachsende Protestbewegung
Die Protestbewegung wird maßgeblich von Studierenden getragen, die durch Universitätsblockaden und Großdemonstrationen erheblichen öffentlichen Druck erzeugen. Ein bedeutender Wendepunkt zeichnete sich vergangene Woche ab, als sich erstmals die größten Gewerkschaftsverbände des Landes mit den studentischen Aktivisten solidarisierten. Am 1. Mai gingen mehrere tausend Menschen sowohl in der Hauptstadt Belgrad als auch in Novi Sad, dem Ort des Unglücks, gemeinsam auf die Straße.
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Die studentische Protestbewegung hatte diese Entwicklung im Vorfeld als Eintritt in eine „neue Phase“ des „Kampfes“ gegen die Regierung bezeichnet. Inmitten dieser angespannten innenpolitischen Lage sorgt der Gesundheitszustand des Präsidenten für zusätzliche Unsicherheit.
Beobachter sprechen von einer beispiellosen Mobilisierung: Die Proteste am 15. März in Belgrad gelten mit bis zu einer halben Million Teilnehmern als die größten in der Geschichte Serbiens – etwa ein Zehntel der gesamten serbischen Bevölkerung nahm daran teil. Nach Erhebungen des Zentrums für Forschung, Transparenz und Rechenschaftspflicht (CRTA) haben sich die Demonstrationen mittlerweile auf 165 Orte im ganzen Land ausgeweitet, mit 410 dokumentierten Protestaktionen allein in einer Woche.
Vucics Gesundheit
Nachdem Vucic einen USA-Aufenthalt aufgrund medizinischer Probleme vorzeitig abbrechen musste, steht auch seine geplante Teilnahme an der Militärparade zum 80. Jahrestag des Sieges im Zweiten Weltkrieg am 9. Mai in Moskau in Frage. Sein behandelnder Kardiologe Dragan Dincic äußerte am Samstag nach einer Untersuchung im Belgrader Militärkrankenhaus Zweifel daran, dass der Präsident in den kommenden Tagen seine Amtsgeschäfte wieder aufnehmen könne.
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Parlamentspräsidentin Ana Brnabic vermied in einem Fernsehauftritt beim regierungsnahen Sender Pink am Sonntagabend eine direkte Aussage zur Moskau-Reise. Sie deutete jedoch an, dass „Vucic sein Wort halten“ werde. Der serbische Präsident hatte trotz deutlicher Kritik aus EU-Kreisen seine Absicht bekundet, der Siegesparade auf dem Roten Platz beizuwohnen.
Vucic selbst bezeichnet die anhaltenden Proteste wiederholt als vom Ausland gesteuerte Aktionen gegen seine Regierung.
Bemerkenswert an der Protestbewegung ist ihre ursprünglich bewusst unpolitische Ausrichtung. Nach dem Unglück begannen Studierende ihre Universitäten zu blockieren und erhielten dabei Unterstützung von Lehrenden und sogar Rektoraten. Der Schulterschluss mit den fünf größten Gewerkschaftsverbänden am 1. Mai wurde vom Vorsitzenden der Gewerkschaft Sloga als „historischer Moment“ bezeichnet – zum ersten Mal seit 20 Jahren haben sich Arbeitnehmervertretungen in dieser Breite einer sozialen Protestbewegung angeschlossen.
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